Abschied

Gedanken
eines Harmlosen

Lyrik und Prosa

„Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde“
Hermann Hesse

Für Joyce

I got used to feeling lonely
My spirit always down
The grass was getting greener
But my winter was coming round

Abschied

Was ich an dir mochte,
ist schwer zu sagen?
Vieles bleibt in der Erinnerung,
im Vagen . . .
Wir lagen wohl oft zusammen
und gerne . . .?
Manches scheint unbesonnen
aus der Ferne.
Wie oft griff ich in dein Haar?
Vergeblich schon?
Als meine Krankheit kam,
wuchsen Angst und Fron.
Doch keine Bitterkeit soll
bleiben, im Herzen, dem wachen?
Die Verse reimen sich,
auf Schmerzen und Lachen.

Gruß aus Tübingen

die Dinge sind jetzt sehr blau,
und der Neckar schweiget noch immer -
nachts fiel ein Stern in den Fluß,
wie ein Gedanke, abseits.
Ich möchte dich grüßen und
etwas Freundliches sagen . . . 
Viel Zeit bleibt nicht.

Brief nach Hause

ein Stück Papier, die Musik
von nebenan . . .
Beethoven und meine Frau
bei den Vorbereitungen
für den Kindergarten
nach dem Abendbrot.
Ganz herzlichen Dank
für den Gruß und
das Geld, das mir hilft.
GOTT UND MENSCH
mein Beitrag für die Redaktion.
Die Zeitungen stehen voll.
Gestern kam noch
Hölderlin und Diotima
auf Besuch; sehr starker Kaffee,
und der Wille zur Tragödie
wuchs mit den Boten.
Kreon, der König, hat Angst.
Elf Schläge schon zählet die Uhr?
Noch wachsen die Sterne
und Nächte und Gedanken . . .
So kämen wir gern
am Wochenende zu Euch!

Am Fenster

Widerhall von Schatten,
die ruhenden blauen . . .
Kühle in Bäumen wohnt.
In Fenstern die Frauen.
Helle die Himmel,
mit der Zeitigen Licht
drehen ihr Rad - 
Es wirbt ein Gesicht.
Auch die Willigen
kehren, die Vögel schon.
Winde rauhen.
Die Welt wird Ton.

Die Dinge der Welt

eine leere Truhe, ein Kinderwagen,
ein altes Radio mit Grammophon,
ein Sessel, ein Sofa, ein runder Tisch;
Figuren, aus Holz geschnitzt,
ein Parfumfläschchen, ein Etui,
eine helle Lampe mit dem Wappen Napoleons,
zwei Kerzenleuchter,
dazu eine Kanne mit Blumen aus Zinn;
Gläser, ein zierlicher Wandschrank,
eine Handtasche, Porzellanpüppchen,
seidene Hütchen auf dem Kopf;
eine Brille wie sie Hermann Hesse trug,
eine Waschtafel, ein geflochtener Korb,
ein Lederkoffer, ein Gewicht aus Stein;
bunte indische Gewänder,
Bücher, Münzen,
ein paar Schuhe auf einem Aquarell,
ein Tonkrug, eine Pfeife, eine Pendeluhr;
ein Schweinchen aus Marzipan,
ein Halstuch und eine gestickte Decke,
ein Portrait von Mozart, ein weißes Häubchen,
ein Kreuz, ein Christus, eine Kaffeemühle.

Abends

Abends blüht der Hyazinthe
Feuer in schattigen Zweigen.
Kreon, der König, mißt
schon die gewaltige Zeit.
Lautlos schiebet der Mond
Lichte vor aschene Türen
Rädern Liebende drehn
runde der Uhren Geleit.
Leis auch hebet das Wort
an in den Steigen - -
Rollenden Hauptes tönt‘s
hell hinab in das Land.

Internat

Da schlug die Hand
eines Lehrers.
Da standen die Schuhe
sauber in den Regalen.
Und die Sandalen.
Tische und Schränke,
Stühle und Bänke.
Brot, das es gab,
frisches und altes.
Da strömte das Wasser,
warmes und kaltes.

Das Schiff

Das erste Dampfschiff,
die reichen Erfindungen . . .
Mühlen
auf dem Mississippi,
drehend
in den Geschichtsbüchern.
Und wir, die Kinder,
aus Holz,
über das Wasser.

Vermessung

Aufrecht sitze ich im Bett.
Der Landvermesser K mit der Elle
mißt die behäbigen Wände . . .
Ich denke zurück an Kafka,
an die nette Note in Deutsch . . .
Neben mir liegt meine Frau.
Ich schaue ihr ins schlafende Gesicht.
Es ist kein erotischer Anschlag.
Kennst Du den Landvermesser K?
. . . Lange zähl ich die Uhren.

Am Meer

Segel an glatten Stränden gehen,
der mühlenden Augen gerad Geleit.
Die Wege füllen sich. Zu zweit
Menschen mit kleinen Wünschen stehn.
Traurig der Fischer führt sein Boot.
Die Stunden fallen wie Ruder ein.
Ein blankes Weib hebt einen Stein.
Traurig der Fischer führt sein Boot.
Vereinzelt Schatten treten leer
und hohl hinaus. Der Wolken Licht
zerbricht im Westen. Ein Gesicht
voll schon mit Sternen wird und schwer.
Und kehren Schritte weich zur Stadt,
der großen Netze sanfte Pein.
Die späten Worte drehn im Schein
der Lampen, um der Uhren Rad.

Der Mond

Am Abend stehen Frau und Mann.
Der Mond in glatte Fenster fällt,
der Türe schweigen – Ab und an
sind Zäune um ein Haus gestellt.
Die Sprache fließt in Teich und Bach.
Die Stunden ziehn wie Wolken gehen.
In Betten liegen Kinder wach,
und Augen denken groß an wen.
Mit runden Uhren aufgetischt,
versammelt leis‘ ein Läuten sich.
Die Greise beten. Stumm erlischt
das Licht in Händen um ein Ich.

Gauklerlied

Zeitig kehrt der große Abend.
Wolken ziehn am hohen Himmel.
Eilig drängen weiße Schimmel
durch die Tore, heiter trabend.
Rufe durch die Zimmer jagen,
wo der Mann besitzt die Hure.
Der bezahlten Nacht zum Schwure
bleiche Fischlein aufzutragen.
Blutbespiegelt liegt der Weiher.
In den Bächen fließt ein Sterben.
Dunkel sich die Städte färben.
Hell am Feuer flammt die Leier

Albergo

Der Mond, der über schrägen Dächern scheint.
Ein Sprechen,das in warmen Winden greint.
Das Schlagen laut der Türen. Seinen Bauch
hält der große Fremde nach dem Mahle auch.
Verwurzelt an des Fensters Schacht der Greis.
Es winseln Hunde unter Tischen leis.
Des Turmes waches Klirren, das die Stunde zeigt.
Der Hitze Wollust, die in Wünschen steigt.

Quatorze juillet

(vieux village à la Meuse)
Die stolzen Fähnchen leuchten in der Luft,
Wie gern die Mädchen gehen in rotem Kleid.
Die Wege füllen sich mit Abendduft.
Und auf den Brücken steht die bunte Zeit.
Auch Jungen jetzt trompetenschwingend ziehn.
Die lose Luft staut sich in einem Baum.
In dunklen Kirchen alte Frauen knien.
Und graue Männer wenden sich im Traum.
Dann Kinder eilen mit Stimmen und in Schuhn
Vorbei mit Blumen und auf Füßen klein.
Und Feuer brennen groß, um auszuruhn,
Wenn in den Räumen fällt das Schweigen ein.

Gegnung

Groß mündet der Sommer
in schwankenden Wässern.
Die Augen von Gehenden
an ruhenden Tischen.
Vor mühlenen Schränken
drehn wehe die Schatten.
Ein Baldiges kehret
aus wohnlicher Helle.
Noch in den Räumen
rasch regen sich Winde.
Mit fallenden Türen
die herbstlichen Schwellen.

Ardennen

Die Menschen hier sind sehr stolz.
Hoch steht die Tanne und grün.
Die Berge, sie sprechen nicht.
Fern liegt Verdun - - 
Wir sitzen aufrecht im Zelt und
schneiden das Brot:
die roten Stämme 
und Seen.
Auch grüßt der Abend.

Einem japanischen Freund

Scharf geschnitten
an meiner Wand hängt
groß dein Gedicht:
„. . . langsam langsam
zögert auf den Worten
das Meer, die glitzernde Welle“.
Helle noch wahrt dein Gesicht
der Abende Herzen.
Zum Scherz nur
kam deine Gestalt?
Vom Fudschijama
herab in die Ebenen
stieg unser Stolz;
ohne Beute kehrten
heim unsere Hände,
mit blutenden Läufen.
Schäumend jedoch, von den Bergen,
schießt immerwährend
der Sturzbäche Überfluß. Fern
erheben sich die Tempel Gottes.

Meiner Mutter

Großgezogen,
hinter den Wirren des Krieges,
im Kartoffelacker, gebückt,
mit den Händen, den reichen
und harten, den Krumenhänden.
Und den Tagen, nahe und ferne.
Da fielen Ängste und Sterne
gerne in dein Gesicht?
Wie sich die Bilder gleichen?
Vieles bleibt nur Zeichen.
Da sind wir, waren wir.
Da bist du.
Und ich?

Auf eine alte Landschaft

Unaufhaltsam und ewig gleiten die Sterne, die Gleichen,
über die blauen Stirnen der Schlafenden.
Stößt fallenden Hauptes der Mond, der Heimliche,
die blanke Waffe in stummere Höfe.
Die liegen, bloße Zeiger an des Tales gezeichneter Wölbung,
fruchtend und schwer in der Erde Gezeiten.
Die liegen -.
Runder drängen zum Abend der Liebenden ruhende Augen.
Über die zitternde Seele fährt langsam ein verlassener Kahn.

Bleiben

Blicken die Birken seltsam weiß,
werden silbern die Laute . . .
Über die Ebene,schwer und greis,
zieht eine Wolke – die graute.
Sterben die Farben um den Stamm,
ragen nur Ast und Rinde;
den verblichenen Uferkamm
kämmen lose die Winde.
Füllen sich keine Tage mehr - 
ließen nur Stumpf und Rest?
Fällt die Stunde leis und leer
in das Holzgeäst.
Bannen die Wege stumm das Haus.
Herb wurden Dach und Wein.
Läuten die Glocken den Abend aus
über den schweigenden Stein.
Blicken die Birken seltsam weiß.
Werden silbern die Laute…
Über der Ebene, schwer und greis,
ruht nur das Auge, das schaute.

Grablied auf die arme Hure

Hoch war ihr Schuhzeug
in dem sie lief.
Die Gasse lag schief.
Ihr Kleid das trief
vom Regen der runterkam.
Kalt war die Nacht,
hart klang ihr Gang.
Die Gasse entlang
ein Betrunkener sang,
das Lied von der schönen Hure.
Kurz war ihr Atem
im Gassenkot.
Ihr Kleid war rot,
die Weltennot
ihr Kunde.
Und auch der Tod,
der Gassengraus,
der blieb nicht aus.
So hatte sie wiede ein Zuhaus,
im weißen Wintergarten.

Bescheiden

Die sanften Höfe lange stehn.
Wie abgepaßt Gewicht und Fuß;
am Himmel Sterne gehen . . .
Und Wolken über Gärten sind.
Und auf den Flüssen fährt es leicht.
Und Großes sagt der Wind.
Herzzaubernächte scheint der Mond.
Bevor das Blatt im Baume gilbt,
bist Du entlohnt?

Arbeit in Bethel

Zwischen Zweigen und Laub
gehet mein Haupt jetzt täglich
und zwischen den Kranken,
die pfeifend sich bücken
und Äste zersägen,
für den Ofen im Haus,
an dem wir die Hände uns wärmen:
Gibt es etwas Wärmeres als Feuer,
von Kranken entfacht?
Was könnte heilsamer sein?

An Rilke

In den Provinzen der Armut - 
Balkenbang brechet das Lichte
und die Pfütze des Tages,
des Himmels blankes Gesichte.
Lange der Dichter wohnet . . .
mit dem Schritte Immermut,
mit der Hand, die Geschichte - 
In den Provinzen der Armut.

Zeit der Wäscherin

Wenn ich am Abend die Strümpf wasch,
steht alt der Mond am Zaun.
Hab einen Mann geliebet.
Mit meinem Aug geliebet.
So wohl die Fraun.
So müssen die Sommer auch gehen.
Das Korn wird schwer.
Das Mühlrad dreht das Wasser.
Das Wasser mit seinem Wasser.
Wie auch das Meer.
Viel tausend Hirn wohl auch gehen.
So geht die Tür.
Die Zahl und Städte stehen.
Wohl hundert Mal so stehen.
Wie wohl auch wir.

Wunsch

Ich hoffe der Urlaub ist schön.
Die hellen Seen und Strände . . .
An denen oft Bänke stehn.
Ich sitze zu Hause und schreib
und wende die Arbeit . . .
Selbst kann ich nicht kommen.

Warten

Über die hohen hohen
Städte hinweg
der Vogel flog . . .
Außer seinem Ruf
blieb nur wenig.
Mein alter Vater hat
eine schlichte Kerze 
ins Fenster gestellt.
Wann der Wind aufkommt,
weiß auch er nicht.

Spätsommer

Die Stunde geht fast fremd und unbeschuht.
Die Bäume runden sich im Munde.
Die Wege liegen gerad und ausgeruht
und geben schon vom Unbekannten Kunde.
Da fällt die Stadt aus ihrer harten Frucht.
Die Worte beben schwanger durch die Zweige.
Ein großes Boot biegt um die Hafenbucht.
Und in den Abend sinken flammend die Gesteige.

Bildnis

Unter bangem Gebälk wohnt
groß der Händler van Gogh.
In den Höfen geht er stumm
mit wiegenden Taschen,
tastend die Toten.
Dort, wo die Frau sich bückt
tief über Stiefel und Tuch,
stirbt ihm ein Gutes, oder
ein Leitendes neu wächst
hervor. Abendgeläut.
Jetzt, der Schiffer allein
ziehet mit steinernem Kahn,
und der Augenblick selbst
sich stürzt. Jedem fließt da
sein eigenster Wahn.
Zuflucht, was künde ein Wort
wie dieses, gewogen auf Tellern
welkender Frucht; schöner
wüchse ein bangendes Geschlecht - 
B i l d nur bliebe sein Lohn?

Ansicht

Hellen Himmels rinnt die Stadt.
Und die leichten Winde treiben.
Füße gehen vor den Scheiben.
Vor den Brücken dreht das Rad.
Lüfte sind und Teiche glatt,
in der Mittagssonne kreisen.
Stimmen schwirren. In den leisen
Türen sitzen Greise satt.
Auch des Wunsches Stille spricht,
in den Höfen, unter Bäumen.
Stummen Sinnes Vögel säumen.
In den Räumen schwillt das Licht.

Möwen

Hoch Möwen fliegen über blauende Schollen.
Die Himmel scheiden an Bach und Baum.
Hölzern die Räder in den Steigen rollen.
So Menschen gehen durch Ding und Raum.
Die Uhren groß an den Türmen hängen.
Boote stoßen vom Land in das Meer.
Winde schwingen in offenen Gestängen.
Und in den Häuptern das Wort wird schwer.
Die Wege haften in ihren Weiten.
Die Fischer in ihren Wünschen ruhn.
Hell Stunden schlagen gegen die breiten
Ufer des Himmels, um der Möwen Tun.

Fenster in Almelo

Die kleinen Gärten ziehen lange hin.
So wie die Häuschen gern in Reihe stehn.
Die roten Ziegel in der Sonne gehen.
Und laute Kinder spielen um Gewinn.
So auch die Katze sitzt auf ihrem Stein.
Sie schaut den Himmel an über dem Baum.
Hinter den Hecken endet Menschentraum.
Und Wolken ziehen weiter und allein.
Dies alles liegt bescheiden und doch dar.
Die Glocken streuen Körner durch das Haupt.
Wie frisches Eichenlaub, das gerad entlaubt.
Bevor die Herbste fallen und der Star.

Camping

Die Männer rücken gerad das Zelt.
In Bäumen kehrt ein Schweigen ein.
Aus leisen Fenstern huscht der Schein.
Gern Mädchen blicken in die Welt.
In Bächen schwillt des Wassers Ton.
Weich Fliegen fallen von einem Arm.
Stühle in Schatten stehen, warm.
Es dämmert vor den Wäldern schon.
In Winden kauern Schlag und Zwirn.
Der Echo Hämmer bis ins Tal.
Zur Nacht geschwungen Tuch und Mahl.
Hell flattern Worte um ein Hirn.

Das Haus

In Gärten schwanket wartender der Schritt,
der Bauern Hände in den groben Fluren.
Hell gehen Pflüge, und die späten Uhren
zieh‘n milde Frauen auf im großen Licht.
Des Töpfers blanke Waffe und Verzicht
ruht auf den Böden und den runden Broten.
An stummen Tischen sammeln sich die Boten,
wenn tief der Mond in leise Fenster tritt.

Antlitz

A b e n d  trägt das kleine Dorf.
Zeit und Wege sind geschnitten.
Warme Pflüge stehn und mitten
Läuft ein Hof mit modernem Torf.
Fremdes fallet aus dem Wind,
Wenn die Stuben ballt Gewitter.
Dann stehn Frauen auf und Ritter
groß auf Pferderücken sind.
Danach tretet Stille ein - 
Und die runden Uhren gehen.
Männer in den Fenstern stehen.
Und von ferne rollt der Schein.

Wegsam

Blätter vor der kleinen Stadt,
und der Weg führt steil hinauf.
An den Hängen ihren Lauf
Bäche ziehen Wiesen satt.
Große Monde kehren oft,
wenn das Mahl im Munde war.
Wenn die Lieben ohn‘ Gebar,
große Monde kehren oft.
Bäche ziehen Wiesen satt
An den Hängen ihren Lauf.
Und der Weg führt steil hinauf,
Blätter vor der kleinen Stadt.

Herbst

Der Bäume Obst in Gärten fällt.
D‘ran Hände reiben.
Des Himmels blankes Antlitz hellt.
Der Vogel in die Lüfte schnellt.
Und Wolken treiben.
Zinnoberrot sich färbt die Stadt.
Die hohen Winde rauhen.
Die Stunden drehen um ein Rad.
Der Jäger keine Ruhe hat.
Die Greise gruen.

Groß, über Wegen . . .

Groß, über Wegen,
ziehen die Boten,
wo lang sich scheidet
der Monde Geschehen.
Hell Pflüge stehen.
Und in den Räumen
blaue die Himmel
wachsen und Bäume.
Still aber drehen,
mitten im Treiben,
kommen und sehen,
der Menschen Gesichte.
Lichte um Lichte
kehren die Winde,
groß, über Wegen - 
kehren und gehen.

Dämmerung

Dämmerung, wo meine Mutter wohnet.
In den hohen Bäumen ruht die Zeit.
Hunde werden laut. Und weit
Geht ein großer Geist und schonet.
Stunden drehn in Räumen und in Rauch,
Wo die Wolken an den Himmel fassen.
Sterne stehen über den Terrassen.
Dämmerung, wo meine Mutter auch.
Wieder in den Hirnen geht und lohnet.
Und die Höfe liegen glatt und gleich.
Winde rücken rot an Dach und Reich.
Dämmerung, wo meine Mutter wohnet.

Wende

Wendendes Blatt am Weg.
Die Zeit in den Uhren
noch einmal gehet.
Stille wechselt das Wort.
Noch einmal ruhet das Aug
auf schwellendem Wasser,
bevor das Eis brechet
los aus den Himmeln.
Dennoch nennet der Geist
das Schöne auf Erden.
So wächst es.
Es bleibet das Gute.

Kinderlied

An alle geschrieben,
an die Hände, 
an den Mund,
an die Augen, die vielen,
an den Bär und den Hund;
an die Fische im Wasser,
an den Vogel auf dem Ast,
an Schwestern und Brüder,
wenn du welche hast;
an den Schneider,
an den Gärtner,
an den Bäcker mit dem Brot,
an Sonne, Mond und Sterne
und an das Abendrot.
Siehst du, wie sie sich drehen,
die Bilder, mein Kind?
Schlaf ruhig ein. Es stehen
die Bäume im Wind . . .

Gedanken eines Harmlosen

Der Tag heute war voller Ereignisse. Spät ist es geworden, und mein Kopf schwindelt ein wenig von der dumpfen Fülle des Erlebten.
Dabei fing alles so leer und traurig an: ein grauer, regnerischer Himmel mit dunkel verhangenen Wolken, fratzenhaften Pfützen auf den Straßen, das lange Warten in Gilead mit Frau A., das monotone Auf- und Abschreiten des Personals der Röntgenabteilung, dazwischen Putzfrauen, Handwerker, Pfleger, rollende Betten mit Kranken darin. Türen wurden geschlagen, Uhren verglichen. Alles eilig, eilig . . . Es wollten keine Bilder aufkommen. Auf dem Rückweg halte ich den Schirm. Die Pfützen scheinen noch größer geworden, die Erde mit Schlamm beschmiert, hier und da ein paar Spuren im Dreck. Wir wählen den kürzesten Weg, wechseln kaum ein Wort. „Wie oft sind sie geröntgt? Viermal? . . . „An Kopf und Lunge.“
Zu Mittag der Gong. Die frommen Bürger schreiten zur Raison. Heiße Klöße dampfen. Es gibt Kalbsfleisch mit Soße und süße Apfelkringel in Schälchen. Es wird herumgereicht. Man kostet. Zeit vergeht.
Nach dem Mittagessen dann plötzlich die Sonne. Der Himmel lichtet sich. Die Bäume gewinnen an Kontrast. Die Menschen werden freundlicher. Die Angst scheint zu schwinden.
Ich statte meinem Zimmer einen Besuch ab. Es ist leer wie eine Nußschale, weiß getüncht durch die Maler, beinahe uneinnehmbar. Nur nicht jetzt verzweifeln. Du wirst hier drei Jahre aushalten. Bücher lesen, Erfahrungen sammeln, gut zu den Menschen sein, Arbeit finden.
Draußen ist es jetzt richtig warm geworden. Die feuchte Wärme kriecht einem förmlich unter die Haut. Eine Bank läd zum Sitzen ein. Ein Hase huscht über den Weg ins Gesträuch. Man könnte Kaffee trinken, wach werden, der Alte sein. Ich pfeife mir ein Lied. Ein Mann geht mit einer Tasche vorbei. Eine Frau schiebt einen Kinderwagen. Die Symbolik des Alltags.
Wie von selbst führen meine Schritte mich ins Restaurant. Ich bestelle mir tatsächlich einen Kaffee, eine Obsttorte und dazu obendrein noch Sahne. „Alle Menschen sind schön“, geht es mir durch den Kopf, und selbst die Kellnerin mit ihren viel zu dünnen Beinen und ihrer konsequenten Stupsnase ist heute die Geliebte Apolls. „Quelle belle visage!“ Ich denke wieder Französisch, und wenn ich Französisch denke, bin ich schon beinahe verliebt. „Ach ja, die Liebe . . .“
„Mein Gott wirst du sentimental.“ Ich zahle und gehe lieber, schlüpfe in den Mantel wie ein Wolf in den Sack und laufe die Treppen hinab ins Freie. Der Himmel ist immer noch blau. Die Sonne scheint, fast als wäre es ihr gleichgültig. Wen geht schon die Sonne etwas an? Sie lacht, wann sie will. Aber die Schlacht von Waterloo konnte selbst sie nicht verhindern. Ich schlendere über den Friedhof. Die Gräber sind immer noch mit Grün bedeckt. Vor kurzem lag hier noch der Schnee. Jetzt sprießen schon die Krokusse aus der Erde. Bald wird wieder das Gras wachsen und die Bäume voller Laub sein. Man wird die Uhren leiser stellen. Alles wird um eine Spur leichter werden.
Vor dem Gartenhäuschen kauern zwei Arbeiter, die Spaten in der Hand. Rauch quillt aus dem Schornstein. Man hat im Winter zuviel Holz geschlagen. Aber was machen mit dem Winter?
Wie von ungefähr treffe ich kurz darauf Frau G, eine alte Bekannte. Wir stehen Du auf Du miteinander. Sie erzählt von ihrer mißglückten Kur, ihren Kindern, ihren Sorgen, ihrer Neueinweisung. Wir gehen ein Stück weit zusammen. Dann trennen sich unsere Wege. Vielleicht sieht man sich bald wieder? „Gut so.“
Von einem großen Haufen sauber aufeinander gestapelter Holzkisten nehme ich mir eine mit, für meine Bücher, für Wäsche, ich ich nicht mehr benötige, für das eine oder andere. Es wippt die Kiste in meiner Hand – Eins zwei, eins, zwei – wie ein Gewicht, von dem etwas abhängt. Dabei weiß ich nur zu gut, das sie nicht mein Leben erfüllt. Aber für einen Augenblick ist es schön, etwas zu tragen, auch wenn man dazu nichts zu sagen weiß: „Die klugen Sprüche sind nicht immer die besten“, denke ich mir, „und das Wesentliche entgeht uns doch.“

Trost

Wie komisch das ist! Gestern noch warst Du hier, ganz in der Nähe, und heute ist Dein Zimmer schon ganz desinfiziert und durch jemand anders belegt. . .
Die Natur scheint das wenig zu kümmern. Die Bäume werden hier bald voller Laub sein – darüber der Himmel. Menschen werden in den Gärten die Erde schaufeln und in die Hände spucken. Auf der Sparrenburg wird die ewige Fahne wehen, und der Denker von Rodin wird vor der Kunsthalle der Stadt sitzen und weiß Gott worüber nachdenken. . . In den Teichen werden die Fische wimmeln.
Was ich damit sagen will? Eigentlich nichts und uneigentlich sehr viel. Die Welt scheint mir manchmal nichts als eine Metapher zu sein, ein großes, sich drehendes Rad mit unerhört vielen wechselhaften Bildern, Farben und Tönen, aber bestimmt durch ein und dasselbe Motiv, das wir Leben nennen, rhythmisch auf und niederschwingend: denk nur an die schnellenden Rücken der Pferde oder an das Auf- und Abwogen des Meeres oder an die winddurchwühlten Dünen auf Langeoog.
Ich wünsche Dir, daß du bald wieder dort sein kannst, daß Deine Anfälle und Schmerzen sich lindern und heilen mögen, daß du Deine Grenzen – Stärken wie Schwächen – neu erkennst und Du den Mut und die Kraft findest zu einem Neuanfang. Verzweifle vor allem nicht, auch wenn manches jetzt gegen Dich spricht. Dein Professor wird Dir sicher helfen, und ich zweifle nicht daran, daß Menschen Dich umgeben, die Dir zugetan sind.
So sei auch Dir selbst zugetan. Liebe Dich und verfluche Dich nicht (denn auch diese Situation gehört mit zu Dir und ihr Durchstehn spricht nur für Deine Persönlichkeit). Behalte Dein gutes Herz, Deine Offenheit und Deine Spontaneität. Aber sei nicht n u r gut, sei auch mal böse! Auch das gehört mit zu Deinem Beruf und überhaupt mit zum Menschsein. Aber damit erzähle ich Dir wahrhaftig nichts Neues. Ich grüße Dich herzlich.

Eine unausgesprochene Beobachtung

Um vier Uhr steht er hinter dem Zaun. Es ist reichlich schwül, ein später Nachmittag, und die Kirschen hängen groß vom Baum. Lange wiegt er die vollen Früchte in der feuchten Hand. Sie sind wirklich sehr reif.
Derweil die Glocke zu läuten beginnt, zieht eine Wolke auf und über sein Haupt. Sehen kann er sie nicht, denn andächtig schaut er auf die Uhr. Es ist eine ungemein genaue Uhr, mit großen und kleinen Zeigern. Er hält sie bedächtig ans Ohr. Sie läuft noch.
Vorsichtig hebt er den Kopf, nur eine Hand breit. Sie genügt, um über den Zaun zu sehen. Dort liegt auf dem Rasen, zwischen Blumen, ein Mann.Er hat noch ein junges Gesicht, das zum Himmel aufschaut. Hinauf. Hinauf.
Seine Frau scheint sehr beschäftigt. Sie macht viele Schritte und Bewegungen. Abwechselnd rührt sie Arme und Beine und ist tief über die Wäsche gebeugt.
Auch einen Hund hat man dort, wuchtig und schwer und mit dickem warmem Fell. Bellen kann er laut und die Zähne fletschen, wenn man sich nähert. Behutsam knabbert er an einem Knochen. Herrchen hat ihn mitgebracht.
Neben dem Hund sitzt ein Kind. Es ist ein ungewöhnlich gepflegtes Kind, mit schönen hellen Augen und einem grünen Fahrrad. Es liest schon Gedichte und trägt diese auch vor. Abends spielt es Flöte.
Wenn dann der Postbote kommt, geht er eilig zum Tor und nimmt ihm bereitwillig Briefe und Paket ab. Freundlich nickt er, sagt noch etwas und auch der Postbote nickt.
Nachdem dieser fort ist, dreht auch er sich um und geht durch die Tür in sein Haus. Er hat alle Hände voll zu tun, denn es ist wahrlich schon spät. Sprechen kann man ihn jetzt nicht.

Wie ein Märchen

Als Kind ging ich einmal zusammen mit meiner Mutter, die damals noch sehr jung war, in eine Vorstellung. Ich hatte keine Ahnung von dem, was uns erwartete, war aber irgendwie recht neugierig, wie Kinder es halt sind. Die Vorstellung lautete: “Von der Liebe in dieser Welt“. Auch andere Mütter waren mit ihren Kindern erschienen. Damals war es das erste Mal, daß ich ein Wunder erlebte.
Ein großer beleibter Herr mit hervorquellenden Augen und hochgekrempelten Hemdsärmeln sprang erhabenen Fußes und gewitzten Hauptes mitten auf die Bühne, verbeugte sich für einen Augenblick auffallend höflich, um uns alsbald ebenso auffallend einen glitzernden Metallstab zu zeigen, den er zunächst spielerisch ruhig in seiner rechten Hand hielt. Diese jedoch plötzlich zu einer festen Faust krümmend, schlug er mit geballter Wucht auf einen einfachen Tisch ein, an dem niemand saß, was ihn im übrigen aber wenig zu stören schien.
Mit groben heftigen Hieben schlug er, wie ein Besessener, auf den Tisch, der, mal grün mal blau mal rot, von den verschiedenen Lichtern umglänzt wurde, die irgendwoher von oben auf die glatte Fläche der Bühne fielen. Die scharfen Reflexe des Lichts zerbrachen in den wilden Gebärden des Mannes, der nur um so wuchtiger schlug und schrie und spie, wie ein feuriger Drachen.
Blindlings schlug er auf den Tisch ein. Dieser zerbrach weder, noch verbrannte er. Denn der Tisch war von Stein, und nur wenige Funken stoben, unter den gellenden Geräuschen der Schläge, in den Raum, der uns beide umgab.
Seit dem Tage aber hat meine Mutter nie wieder mit mir eine Vorstellung besucht. Zusammen gingen wir nach Hause und brachen das Brot, wie sprachlose Schreine.

Geburtstag

F hat sein kleines Geschenk auf den runden Tisch gestellt, der mit farbigen Blumen geschmückt, mitten im Zimmer steht, und auf dem schon verschiedene Päckchen ausgepackt liegen. Pralinen und Marzipan gibt es dort, ein schön eingebundenes Buch, eine Eule aus Makramee geflochten, ein großes Lebkuchenherz, eine Flasche Burgunder. Auch Gäste sind geladen, aber nur wenige, die Schwiegermutter, die Nachbarn mit ihrem Hund, der Untermieter. Die Kinder sind ins Freibad gegangen, das soeben geöffnet hat.
Es ist warm, mitten im Mai, und der kleine Kreis hat draußen auf der Terrasse Platz genommen, die vom Wohnzimmer hinaus zum Garten führt. Heißer Kaffee dampft in weißen Porzellantassen, Torte und Sahne werden gereicht. Dazu gibt‘s Kekse, selbstgebacken.
F macht es sich in seinem Korbsessel bequem, schlägt die Beine übereinander und hört zu, was gesagt wird, während seine Schwester wiederholt aufspringt, um in der Küche zu hantieren und die Gäste zu bedienen. Vom neu errichteten Behindertenzentrum ist die Rede, das gleich nebenan steht, ein riesiger Komplex, wo Behinderte in drei Stufengängen eine ihnen jeweils entsprechende Ausbildung erhalten sollen. Hundertundsiebzig Schüler sollen jährlich als berufsfähig entlassen werden. Aber wohin dann mit ihnen?
Man selbst hat Ende der Sechziger gebaut. Das Baugelände war verlost worden. Man hatte Glück gehabt, einen Bauplatz bekommen, zu günstigem Preis. Heute wäre da unglaublich! Schuften hat man müssen und einsparen und viel um die Ohren gehabt. Zwölf Jahre war das her. „Man glaubt nicht, wo die Zeit bleibt.“
Dann wechselt das Thema. Man spricht über die Bäume, die Tannen, die irrsinnig hochgeschossen sind,so daß sie die Sonne wegnehmen. Beschneiden wird man sie bald müssen. Im Theater ist man gewesen. Die Kinder haben Ferien gehabt. In Frankreich laufen gerade die Wahlen für den neuen Präsidenten, auch in Berlin gibt es Wahlen. Man ist nicht zurückhaltend in seinen Äußerungen, schafft seinem Unwillen Luft. - - Das Wetter soll umschlagen? „Hoffentlich hält sich‘s noch.“
F spürt die feuchte Zunge des Hundes, der sein nacktes Knie beleckt und empfindet seine Nähe als ausgesprochen wohltuend. Er faßt in sein Fell, streichelt ihm über den wuscheligen Kopf. Er muß an eine Frau denken, aber es sind nur flüchtige Bilder, augenblickshaft, unscheinbare Konturen auf vergilbtem Papier, die alsbald verlöschen.
Wie der Urlaub in Finnland war? Man wird noch Dias betrachten? - Kalt war‘s! Aber die Luft soll dort anders sein, angenehm trocken wie der Schnee. Die Menschen tragen dort selbst bei tiefen Temperaturen keine Mützen. Man hat viel Steckrübensuppe gegessen, von Dosen gelebt, sich selbst beköstigt. Einen Elch hat man nicht gesehen, aber einen deutschen Soldatenfriedhof besucht. Die Überfahrt war gut . . .
Nach den Dias muß F wieder zurück, in die Klinik. Er fährt mit dem Fahrrad, und der warme Wind fegt ihm um die Ohren. Der Himmel war selten so blau, und die Sonne senkt sich im Westen, hinter den Hügeln. „Let‘s go West“, will es ihm durch den Kopf.
Die Klinik ist schön gelegen, neben Schrebergärten. Man sieht sich noch die Tagesschau an, ißt Obstsalat. Mitterand hat in Frankreich gewonnen, Sohn eines Bahnwärters.

Komik

Ein Unfug, der durch einen Unfug beide Beine verloren hatte, ließ sie sich einfach ersetzen, setzte sich in eine einfache Universität und hielt dort einfache Vorlesungen über den Unfug, denn er dachte nicht zu Unrecht: „Ich, Kenner des Unfugs, werde ja wohl am besten wissen, was der Unfug ist!“
Seine erste These lautete: “Jeder Unfug hat tiefe Wurzeln und ist daher nicht ohne weiteres ergründbar. Er wächst an seinem Ort.“
„Es ist jedoch ersichtlich“, führte er weiter aus, „daß der Unfug in unserem Lande seine Geschichte hat, deren letzter Grund allerdings un...er...gründlich ist, da er in Tiefen wurzelt, die das bloße Auge nicht sieht.“
„Jeder Unfug“, so fügte er hinzu, „ist deshalb scheinbar ungewiß, denn wäre er gewiß, so wäre er nur wahrscheinlich.“ Dies war seine zweite These, die weniger verständlich schien als seine erste und deshalb außerordentlichen Beifall erhielt.
Hierzu führte er wörtlich aus: “Wenn wir jemals Gewissheit hätten über das, was wir ungewiss tun, täten oder getan haben, dann würden wir gewiss anders darüber denken, da wir ja genau wüßten, was wir jeweils getan hätten. So aber sind wir einfach recht und schlecht abhängig von lauter Ungewissheiten, was uns aber im übrigen nicht davon abhalten sollte, nach dem Gewissen zu fragen.“ Auch hierin stimmte man ihm zu.
Seine dritte These war noch schwerer verständlich und vor allem recht sprunghaft im Vergleich zu den vorigen, was aber kaum auffiel, weil er nur jeden Monat eine Vorlesung hielt und zu dieser letzten Vorlesung nur noch ein Student erschienen war. Sie lautete: “Was der Unfug ist, wissen wir nicht, aber wie wir ihn betreiben können, das wissen wir.“ Hierauf nahm er seinen Hut und verließ eiligen Schrittes den Saal. Es winkte übrigens niemand.

Oomkes

Oomkes waren einfach Oomkes. Es war noch früh am Morgen, als F vor der Tür Tellegenstraat 8a stand, einer jener schlichten, in lichtem Braunton gehaltenen Holztüren mit kleinen Fenstern darin und einem weißen Vorhang dahinter, Türen, wie man sie viel in Holland findet, durch die man kommt und geht, wie überall auf der Welt.
Das Straßenbild selbst war durch zwei sich eng gegenüberliegende Häuserfronten geprägt, altes rotes Backsteingemäuer mit weißgestichenen Fenstergiebeln davor und schmalen Balkons, auf denen zum Teil noch Wäsche aushing, einer gepflasterten Straßendecke mit Bürgersteigen und Leuchtpfählen zu beiden Seiten und kleinen grünen Hecken, hinter denen, je nach Pflege, sich Rosen- und Tulpenbeete erstreckten.
F war ganz unangemeldet gekommen, mit dem Zug, verschlafen noch und unrasiert, das Hirn voll dumpfer Dämmerung und den Hut tief ins Gesicht gezogen, wenig Gepäck unterm Arm.
Kalt war es gewesen auf dem Bahnhof und zugig. Menschen in Lederjacken und Mänteln hatten ihn passiert, hastend zur Frühschicht. Nebel hatte über den Kanälen und schmalen Grachten gehangen, verträumt und zauberhaft die vielen Wohnboote und Frachtkähne auf dem Wasser. Dann aber hatte das eindringliche, scharfe Kreischen der Möven über seinem Kopf F unmißverständlich zu verstehen gegeben, daß er in G, der nördlichsten Provinzstadt angekommen sei, an die ihn so viel Erinnerung band, an Menschen und Dinge, die sich jetzt, mit Betreten der Stadt, unwillkürlich aufdrängten, obwohl er selbst noch wenig zugänglich dafür schien. Ein flatterhaftes Erinnern war das, fratzenhaft und zerfetzt wie durchwirbeltes Laub an einem Herbsttag.
Herr Oomkes, ein pensionierter Herr von hagerer Gestalt, lehnte sich auf das eigenwillige Klingeln seines frühen Gastes hin, sichtlich erstaunt über die Balkonbalustrade und schien nicht wenig überrascht über seinen äußerlich nicht gerade einladenden Besucher. Nach kurzem klärendem Wortwechsel verschwand er jedoch wieder in der Wohnung, um bald darauf in eigener Person die Tür zu öffnen und, in einen langen Morgenrock gehüllt, vor F die steile Treppe zur Wohnung hinaufzuschreiten.
„Fühlen sie sich bitte wie zu Haus. Legen Sie doch alles ab. Eine Tasse Tee vielleicht?“ . . . Schon war er in der Küche verschwunden, und F hörte nurmehr, nachdem er auf dem Sofa Platz genommen, ihn dort hantieren. Tassen und Teller klapperten, Wasser rauschte, Schubläden wurden auf und zugeschoben. Angenehme Geräusche waren das, und F mußte an eine Geschichte von Heinrich Böll denken: „Stadt der alten Gesichter“. Gutes und Schlechtes ging ihm durch den Kopf, aber er empfand nicht die geringste Lust, es gegeneinander abzuwägen, etwa wie einen meßbaren Gegenstand. Ihm genügte der Augenblick.
Das rötliche Licht der frühen Sonne fiel jetzt durch das Fenster, und F stand auf und schaute zur straßenabgewandten Seite des Wohnraums hinaus auf den Hof, der noch voller Pfützen stand und auf dem gegen Abend immer die Kinder spielten. Auf den flachen Dächern standen die Fernsehantennen wie hochgeschraubte Heuharken in den Himmel. Eine kleine Windmühle drehte sich im Wind. Eine Katze huschte über ein Garagendach. Ein Vogel flatterte hastig aus einem Baum.
F wollte eine gewisse Traurigkeit überkommen, aber nur flüchtig wie die davoneilenden Wolken über den Dächern. Er wehrte sich nicht gegen die Erinnerungen, die natürlich und wechselhaft sind, wie die wechselnden Bilder einer walisischen Landschaft, aber er widerstand dem Gefühl, seiner Frau gegenüber versagt zu haben. Zwei Monate hatte sie hier, auf Grund ihrer Ängste, bei Oomkes gewohnt, gesprochen, geschlafen, gegessen, während er in der Klinik war. Schwierig war es gewesen, für sie beide. Aber die Vergangenheit im Nachhinein verändern zu wollen, wäre ein genauso sinnloses Unterfangen, wie der Versuch, einen Verstorbenen von der Nützlichkeit des Lebens überzeugen zu wollen.
Und doch wollte F an seiner Vergangenheit nicht vorbeigehen wie an einem toten Hund. Vieles war in ihrer Beziehung geschehen, was er nicht missen wollte, was ihm nicht leid tat und worunter er auch in seinem zukünftigen Leben nicht leiden wollte, was er eher als Bereicherung und Trost empfand und was ihn für neue Beziehungen öffnete und befreite.
Auch seine Krankheit, sein Leiden selbst, empfand F in keinem Fall als etwas rein Negatives. Auch hier wollte er manches nicht missen. „Was ist das für eine Gesellschaft, die Krankheit und Leid als etwas nur Sinnloses verdrängt?“, dachte F. Und im Stillen war in ihm die Hoffnung, daß auch seine geschiedene Frau, trotz aller durchstandenen Ängste, nicht alles sinnlos erscheinen mochte, daß sich aus dem Geschehen Einsichten und Ansätze für neue Perspektiven bilden würden. „Für jeden gibt es einen Weg“, dachte F.
Als er kurz darauf mit Frau und Herrn Oomkes gemeinsam am Frühstückstisch saß, dem Ei den Kopf abhackte, sich Tee einschenkte und holländischen Käse aß, wurde ihm deutlich, wieviel er diesen Menschen zu verdanken hatte, wie unkompliziert und selbstverständlich sie seiner Frau und ihm zur Seite gestanden hatten. Daß sie jetzt nicht mehr so oft hierher kam, verstand F zu gut. Wohnen ist nicht nur Einnehmen von Räumlichkeit. Es schafft an uns, bildet und formt unsere Erinnerung, weckt Gefühle, die uns begleiten. Manchmal tut Distanz gut, Unbewältigtes zu verarbeiten.
F selbst wollte nur drei Tage hierbleiben, Besuche machen bei Freunden und Bekannten, sich die Stadt anschauen, den Flohmarkt und die Bücherläden, die Gesichter der Menschen, kleine Erledigungen verrichten.
Während des Essens erzählten Oomkes von ihrer geplanten Reise nach Kanada, die man zusammen mit einer kleinen Gruppe unternehmen wolle, von ihren Kindern in Italien, die bald wieder auf Besuch kämen, von den neuesten Ereignissen in G. F spürt, wie die Müdigkeit schwindet. Er hat den Eindruck, auf einmal viel Zeit zu haben, die ihm wie ein Geschenk aus heiterem Himmel vorkommen will.
In der Tat hat sich der Himmel gelichtet, und als er mit dem Rad in die Stadt fährt, streicht ihm der Wind wie eh und je ins Gesicht. Auf dem Markt schreien und feilschen die Händler. F kauft nur einen Blumenstrauß für Oomkes und für den Abend eine Zeitung und schlendert durch die Fußgängerzone an den Geschäften vorbei. Tauben suchen nach Futter. Eine alte Drehorgel spielt das Lied von den Schlümpfen.
Auch seiner ehemaligen Fakultät stattet er einen Besuch ab, in der das Museum für Völkerkunde untergebracht ist und in dem gerade eine Ausstellung über „Das Opfer, ein komplexes Phänomen“ stattfindet. Er schaut sich die Bilder und Landkarten an, die verschiedenen Masken und farbigen Gegenstände in den Vitrinen, trifft diesen und jenen, erzählt und hört.
Am Tag seiner Abreise hat das Wetter umgeschlagen. Es stürmt und hagelt, und F ist froh darüber, daß es Oomkes gibt, die ihn mit dem Wagen zum Bahnhof begleiten.
Noch einmal fährt er durch längst vertraute Straßen, vorbei an Cafés und Restaurants, in denen er selbst einmal saß. Leise hofft er, vielleicht durch einen Zufall seine Frau zu sehen, seine Frau, die jetzt nicht mehr seine Frau ist, und unter den eilenden Passanten meint er sie für einen Augenblick zwischen Schirmen und Umhängen wirklich ausmachen zu können. Aber im Grunde, im Grunde weiß er, daß sie es nicht ist und daß, selbst wenn sie es wäre, sie ihren eigenen Weg gehen müsste, nicht allein, aber eben doch mit anderen Menschen, ohne ihn.
Auf dem Bahnhof ist es noch zugiger als bei seiner Ankunft. Dicke Hagelkörner prasseln nieder und die Erde wird weiß wie im Winter. Aber diesmal ist F nicht allein. Oomkes stehen neben ihm auf dem Bahnsteig, und als der Zug abfährt, winkt ihm jemand zurück.
Noch einmal blickt er zur Stadt, mit ihren roten Ziegeln, den weißen Fensterrahmen und den hohen Antennen auf den flachen Dächern. “Und doch bin ich froh, daß es dich gab und gibt“, denkt er, und als der Schaffner ihm sein Ticket zurückreicht, ist er gewiß, in eine neue für ihn offene Welt zu fahren, die er sich selbst nur noch erschließen muß.