Friedemann Schäfer

Fahrgast

Gedichte

Einst fliege ich auf
zu den Gazellen des Lichts,
sagt eine Stimme.

Peter Huchel

Fahrgast

Der bucklige alte Mann mir gegenüber
erweist sich als ein äußerst erfreulicher Gesprächspartner,
und wir sprechen über Deutschland,
Hölderlin, Büchner, Heine und Grass.
Der Zug nimmt dabei fahrt auf,
und ich schaue nach draußen
auf das Wogen der kornfelder,
dann wieder eine Baumgrenze,
eine Mauer mit einer Graffitieinschrift
you are not the only one.
Ich habe das Gefühl von Zeit, die in mir fließt,
ganz wie der Regen an unserem Fenster
kleine Bächlein bildet.
Als ich aussteige grüßt mich der alte Mann noch einmal
herzlich und nickt mit dem Kopf
Und ich, mittel in Düsseldorf,
Heines Geburtsstadt!

Sommerlicht

Hier, neben dem Teich und der Kröte,
sitze ich draußen und genieße den Sommer.
Die Faune dampft jetzt nach dem Regen
und glitzert im ganz satten Grün,
in der Ferne das Rauschen einiger Autos
im Sonnenlicht,
und ich erinnere mich an meine Kindheit,
an den alten Kanal, neben dem Dörfchen,
wo mein Bruder den Hecht fing
und das Boot ganz leise
durch das Schilf glitt,
mit dem gleichen glitzernden Sonnenlicht
und dem gleichen satten Grün des Ufers,
und ich denke: So war es.
So ist es. So wird es sein!

Erleuchtung

Abends, im Schatten des Gartens der Klinik,
prüfe ich die Festigkeit der
frisch gesetzten Weidenstöcke der Laube,
lehne mich an den
alten hohen Ahornbaum.
Es ist gut, denke ich,
aber du wirst hier keine Wurzeln schlagen,
das späte Hämmern der Spechte
in dem dicht angrenzenden Wald
wie Orgeltöne in der Landschaft.
Dann plötzlich eine helle Kinderstimme
hinter dem Zaun:
"Wenn ich erst einmal Hundert bin",
und ich kehre um in das schon
hell erleuchtete Haus.

Lichtung

Der morsche Baum, mit Moos bedeckt,
gibt den Weg frei auf die Lichtung.
Ich lege mich in das noch feuchte Gras
und blinzle in das helle Sonnenlicht
hoch über mir die grünen Kronen der Bäume.
Der Himmel ist ganz in blau gehüllt.
Dann plötzlich eine laute Kinderschaar,
mit Schulranzen auf dem Rücken.
Ich habe Heimweh und streichle einer Schnecke
ganz zärtlich über die feucht glänzende Haut
und habe das Gefüh des geschenkten Tages,
für diesen Augenblick.

Betrachtung

Tage, hell, im grünen Licht
der Platanen,
wie ich sie liebe,
die Sonne, den Wind,
die spielenden Kinder im Hof,
das aufgeschlagene Buch.
Die Wolkenschiffe ziehen vorüber,
Bug an Bug,
und nur ich, der Betrachter,
weiß um die Zeit,
die sie brauchen,
um anzulegen
an den blauen Gestaden des Himmels
über dem Land.

Die Tanne

Eine Tanne,
beschienen vom Licht,
mitten im Sommer.
Wie ein Speer
ragt die Spitze
in den Himmel.
Die Schaukeln
in ihrem Schatten ruhen,
so windstill ist es.
Dann ein Hubschrauber,
plötzlich, wie aus dem Nichts,
mit in der Sonne blitzendem Propeller,
als zerreiße er die Luft.
Und ich seh', wie eine Schar von Vögeln
schwirrt aus dem Wipfel des Baumes.

Im November

Wieder der herbstliche Hof,
mit dem Laub spielt der Wind,
ein Lichtwerk von spätem Feuer
liegt auf der Laube,
aber auch sie schon verlassen
an diesem Novembertag.
Ich denke nach über
die Lernfähigkeit des Menschen
und ob man auch im Alter noch lernt,
vielleicht Zerbrechlichkeit,
vielleicht auch Hoffnung,
in die man hineinwächst,
auf etwas, das trägt,
der innere Reichtum,
der Wechsel der Jahreszeiten,
die Wurzeln in mir,
die mich an früher erinnern -;
und ws wird sein,
wenn ich nicht mehr bin,
was wird sein?

Entstehung eines Gedichtes bei Sturm

Ich sh vom Fenster aus die Wolken fliegen
und immer größ're dunkle Flügel kriegen.
Vom Sturme aufgepeitscht sah ich die Wellen
des Meeres am hohen Fels zerschellen.
Da floß der Regen von den Fensterscheiben,
und ich begann, auf das Papier zu schreiben:
Ich sah vom Fenster aus die Wolken fliegen
und immer größ're dunkle Flügel kriegen.

Die Nacht

Sie näht den Mond
an die Stirne des Abends,
die Nacht,
wenn sie kommt,
die Gewaltige
und dringt
ins Gewölbe des Augs.
Bald jagt sie
die Wolken daher
mit dem Windlicht,
bald breitet sie aus ihre Flügel
übre des Menschen Geschick.
Von Welle zu Welle
trägt sie die Tränen des Schweigens
tiefer hinab
zu den weißen Ufern des Schlafs.

Im Nebel

Maske,
die sticht in das Fleisch
wie die Welt
hinter der Welt
sich zurückzieht ins Nichts,
als sei sie
im Nebel vergessen;
Mut,
ein Wort, das aufsteigt,
jetzt im Nebel,
neben der Flut.

Vom Erkennen

Verlaß nicht den Tag,
ohne in einem Buch zu lesen,
das Gute vom Bösen zu unterscheiden,
nicht immer Recht haben zu wollen,
freundlich zu sein,
auch wohl einmal zornig
über das Unrecht in der Welt
und im eigenen Land,
den Vogel singen zu hören,
den Himmel zu grüßen
und die Erde, 
dich zu freuen über ein Gesicht
oder über einen Gedanken,
immer wieder auf's Neue
zu staunen, dich zu erkennen.

Erwartung in Herbst

Mit Mandellikör und Kaffee
neigt sich der Tag,
schieben die Stunden die Wolken,
das erste Rot der Blätter
erwartet den Herbst,
alles Schöne fällt
nieder zur Erde,
ist sterblich wie du,
der du noch einmal träumst
vom funkelnden Spiele des Lichtstrahls,
der sich sträubt im Astwerk,
dir zu zeigen den Weg.

Die Stille

Die Stille sprechen lassen,
hieße das, still zu werden,
immer stiller,
bis man ganz gestillt ist,
und was bleibt von der Stille?
Es bleibt vielleicht de Gedanke
an einen lichtdurchfluteten Weg,
vielleicht der Duft
eines Blütenzweigs,
vielleicht die Hand,
die dir niemnd nimmt.

An mich

Wer wird halten die Zeit uferlos
über dem dämmrigen Land,
wer wird die dünne Haut des Traums küssen,
kämmen sein langes Haar,
wer wird der Kirschblüte
erzählen vom Winter,
wenn nicht ich es bin, der Dichter,
immer suchend nach neuen Schlüsseln
für noch verschlossene Türen,
immer auch wissend,
daß nichts zu wissen ist,
daß nur Vermutung
wohnt in blauen Zimmern,
und daß manchmal ein roter Stern fällt,
fällt unter allen Sternen
zurück in die Nacht.

Für und Gegen

Gegen die Finstenis anschreiben,
anschreiben gegen die Kälte
und Härte der Welt,
den kleinen Samenkorn pflanzen,
unsichtbar noch im Acker,
sich wandelnd zur Frucht,
für das Brot schreiben,
das den Armen zu geben ist,
anschreiben auch gegen die Angst,
wenn sie einen erstickt,
anschreiben gegen die Leere
und die Verlassenheit,
gegen das Herz aus Stein,
anschreiben gegen die Lüge
und jegliches Verbrechen,
gegen die macht des Geldes,
das die Kleinen verschlingst,
schreiben für den Tag, 
wenn er sich langsam erhebt,
schreiben für Freundschaft und Frieden,
für das Gute im menschen,
schreiben für die Freiheit, 
gegen den Hass.

Frühling

Unter der knospenden Haut
berühren mich leis deine Wimpern,
alles Leben so fließend
im Fluß des Erwachens,
die Märkte so bunt
vom Feilschen der Händler,
du faltest Papier
und blätterst in büchern
und findest zuweilen ein Wort,
das dich ruft
aus einem fernen Jahrhundert,
der Saum der Wolken,
die Schatten der Hecken,
es findet Wohnung in dir,
und so gibst du dem neuen Tag,
wie nach langem Wiedersehen
und im Scheine der steigenden Sonne,
deine hoffende Hand.

Das Wunder

Manchmal,
wir wissen nicht Tag oder Stunde,
bricht das Verhärtete in uns,
und wir fangen an,
fangen vielleicht zum ersten Male
an zu ahnen,
daß hinter dem Tode,
oder besser hindurch,
ein anderes neues Leben wohnt,
das stärker und lichter,
unendlich und voll Trost ist,
zwar bellen die Wachhunde weiter,
zwar laufen menschen ihrer Wege,
doch eines,
du weißt selbst nicht wer oder was,
faßt dich, faßt dich bei deinem Ureigensten,
und du bist verwundert, 
verwandelt zu sein.

Der Faden

Den Leitfaden finden
hinter der Dolde der Nacht,
finden Worte für dich und für mich,
für die Erde, die auftaucht,
es wohnt immer ein Kummer darinnen
oder ein Glück, wie es sein mag,
sein mag für heute und morgen,
für alles, was bleibt,
was stirbt, um zu leben
und wie aus dem Nebel das Licht,
das freundliche, aufsteigt,
gibst du den Faden zurück
an den erwachenden Tag.

Vorstadt

Im Wolkengespann der Abend,
getaucht die Menschen darinnen,
in der Dämmerung Gezweig
die bleiche Sichel des Mondes
fällt auf die Stadt,
schneidet mit hellem Eisen die Schatten,
Gesichter huschen,
Motorräder rauschen,
es ist Sommer und schwül,
aber hinter der Hecke
singt leise die Amsel,
hält zitternd ihr kleines 
Lied in den Wind.

Zuweilen

Zuweilen verwendbar,
die Wolken, das Licht,
die Botschaft des Meers
in den Lüften,
auf den Lippen
das Salz,
eine Brise voll Wind und Gestein.
Gemeinschaft,
vielleicht auch dieses,
die Zeit und das Brot,
das wir brachen,
die Hände,
vereinzelt besprochen
und nur ein Lächeln blieb uns,
eine Zeile
voll Sinn und voll Glück.

Ankunft

Immer noch dies, 
immer noch dieses Gesagte,
das aufbricht,
das niemand erwartet,
weil es ganz
anders kommt
als man denkt.
Vielleicht kommt es
in der Gestalt eines Bettlers,
den man nicht weiter beachtet
oder im Duft einer Blume
oder in der Stille
eines kleinen Blatts.
Es will dir
ein Weg sein im Dunklen,
auch wenn du es selbst
noch nicht spürst,
weil es eben 
unfassbar ist.
Immer noch dies, 
immer noch dieses Gesagte,
auf der Spur des Lichts
hin zu dir.


"Er ist gerecht ein Helfer wert.
Sanftmütigkeit ist sein Gefährt.
Sein Königskron' ist Heiligkeit,
Sein Zepter ist Barmherzigkeit.
All unsere Not zum End er bringt.
Derhalben jauchzt,
Mit Freuden singt.
Gelobet sei mein Gott,
mein Schöpfer, reich an Rat."

Georg Weissel

Hermes

Stirnrot am Abend
die Zeit,
wo Hermes, der Bote,
eilt mit den Schatten.
Nicht länger 
zu löschen das Wort,
ist er geharnischt
wie du: 
Staub ist das Eine,
das Andere heißt Licht,
schäumt mit dem Wind
an dein Herz.

Schmerz

Stiller Abendniedergang
seh' ich dich mit allen Sternen,
die aufgehen in den Fernen,
überfließen im Gesang.
Schmerz, der beugte sich herab,
Stimmen, die von weit her kommen,
an die Ufer angeschwommen,
zitternd über deinem Grab!

Wortbruch

Wortbrüchige Zeit,
wir stehen am Ufer
und atmen den Nebel
und trinken die Flut.
Wer fängt den Fisch,
dass wir essen
vom Heilen und Dunklen?
Wer köpft den Scheitel der Sonne,
die magische Kraft,
die uns schwärzt?
Wer greift den Vogel,
dass wir fliegen hinauf
in finstere Nacht?!

Herbst

Wir füllen
die Taschen des Herbstes
voll mit den
Früchten der Zeit,
die Ernte,
und groß leuchtet
die Sonne am Horizont,
jetzt vor dem Winter
das raschelnde Laub
mit dem Lichtstrahl,
der immer noch gilt.

Worte

So viele Worte, 
wofür?
Vielleicht,
um die eigene Sprache 
zu finden,
wie wenn ich
den Schlüssel finde
zur eigenen Tür,
zur inneren Tiefe
und ich am Ende
sagen kann:
es ist gut.

Wie es ist

Ich weiß nicht
wie ich es sagen soll,
wie es ist.
Ist es die Langeweile
dieses Tages?
Ist es der Nebel,
der dampft auf den Feldern?
Ist es das Licht,
das scheint durch mein Fenster?
Ist es der Duft
der Tannen?
Ich weiß nicht, 
wie ich es sagen soll.
Vielleicht ist es dies,
dass ich immer
noch bin!

Spur

Sprache,
angeglichen
den Formen der Landschaft,
wo nur die Kraniche kreisen,
seit Jahrhunderten kreisen
über dem Fluss.
Sprache,
so weit
mit dem Fluss
und der Nehrung,
dahinter das Meer
mit den Kuttern der Fischer,
Nebelland, Zauberland,
die schon erahnte
Spur meines Worts.

Melancholie

Melancholie,
du stille Schwester des Staubs,
du mir
in die Wiege gelegter Schatten,
du mir auf die Brust
gelegte Blume,
mein Wanderstab,
mit dem ich
die Wüsten durchschritt,
von Quelle zu Quelle,
von Welt zu Welt,
die Narrenkappe
unter dem Arm,
die unendliche Mühe
des Kreises,
aber du schenkst mir auch
des Trost des Worts,
die blaue Liebe der Sterne,
deinen tönenden Mund.

Meditation

Wieder allein
mit den Gedanken,
und nur die Wolken
ziehen über die Stadt,
kein Mond, keine Sonne,
der Himmel verhangen;
dann der erste Ton
eines Rotkehlchens
in dem
noch kahlen Baum,
du spürst:
Es wird gut.

Winterwarten

Es ist alles wie einst,
der Wind und der Regen, 
das Licht,
das zu weichen beginnt,
der abermals sprechende Mund,
dein Gesicht,
sich spiegelnd im Wasser,
die Sehnsucht,
der Rauch deines Herzens,
der weisser zum Himmel emporsteigt,
wissend,
dass es bald Winter wird,
Zeit irdischer Ruh'.

Heilung

Unter der Knospe der Zeit
wächst deine Seele,
sie spannt sich aus
von Ast zu Ast,
von Wurzel zu Wurzel,
diene ihr sanft,
denn sie ist deine Schwester,
die in dir wohnt
und die dich braucht
wie du sie,
sie reicht dir das Wasser,
von dem du trinken sollst,
um wieder heil zu sein, 
über den Tod hinaus.

An meine Mutter

Die du mich liebtest
unter der Sonne,
du Mutterleib, du irdischer,
du gabst mir Raum
auch für meinen Leib und
nicht zu vergessen die Seele,
die manchmal weinte vor Kummer,
lachte vor Glück.
Verzeih'mir, altes Mütterchen,
wo ich zerschlug
dein feines Netz der Liebe
und Zärtlichkeit.
Deine feinen Äderchen
laufen nun durch meine Stirn.
Im Winter sind es kleine Bächlein,
die rauschen in meiner Brust.
Daß es nicht zu eisig wird,
gib' mir von deiner Wärme.

Durchwachte Nacht

Noch steht die Zeit
in der Mitternachtsgondel,
schlagen die Stunden
ihre langsamen Pendel,
die goldene Schleife des Mondes
zieht ihre einsame Bahn,
und die Augen der Sterne
quellen wie Tränen herab.
Du liebst diese Erde,
ist dies nicht Erfüllung genug?
Ach, die Menschenkinder
sind wie die wankenden Halme,
ein Hauch nimmt sie hin,
und sie erschlaffen.
Doch wie der Geist dies erkennt,
hebt sich der Schleier der Nacht,
seh' ich sich röten den Tag.

Gesang

Der feine Regen,
der über das Land fällt,
wischt die Erinnerung weg,
als sei sie nie gewesen.
Alle Stille
ist ins Laub gehüllt,
alles Sagen
hat aufgehört,
nur eine Spur von Licht
in der Regenrinne.
Die Herbstzeitlose hat
ihr Vergessen in den Staub gemalt,
so singen die Dinge.

Gefangen

Wir rudern härter die Tage,
hier, wo die Wole schäumt,
gegen die Brandung des Meers,
ich weiß, ich bin einsam
und geh' über
sehr dünnes Eis,
verdunkelt die Landschaft,
mein Herz, ein verwundeter Vogel,
der gegen den Horizont fliegt,
die Zeit, ein frierender Fluß,
der mich gefangen hält
im Netz meiner sinkenden Träume.

An einem Sommertag

Noch im Rinnen des Regens
nach der Spur suchen,
die der Staub hinterließ.
Auch ich bin nur Staub,
aus Erde geformt und geknetet,
auch ich bin nur Staub
und weiß, daß ich sterbe mit ihm.
Noch atme ich Sommer und Licht
und die Bläue der Luft
und den Regen,
noch seh' ich den Baum
vor dem Fenster, der blüht
mir mein Herz zu
und schreibt mir ins Aug' seine Ruh'.

Verstand

Zur Unzeit blätterst Du Bücher,
findest zuweilen ein Wort,
das grenzt an den
Saum dieser Welt,
du kämmst ihren Scheitel genau
auf den Sinn hin,
die Fragen, die bleiben,
sie gehen zu Herzen,
das Licht des Verstandes,
ein Schatten des Seines,
der sich bald hebt, bald fällt
und beides, Höhe und Tiefe,
zeichnet der Mensch.

Der Weg

Die Schneise,
die durch den Wald führt,
weist dir den Weg,
ab und an blitzt ein Lichtstrahl
durch das schon kahle Geäst,
schimmern Wolken
rötlich am Horizont.
Weg, wie oft schon beschritten,
wie oft durchdacht,
Spuren hinterlassend,
kleine, große, unzählige,
aber der Weg zeigt
dir die Richtung,
spricht dir zu seine Bahn.

Ernte

Wieder so weit,
im Entschwinden,
die Brücken am Strom,
der Schrei der Möwe darüber,
die weißen Ufer der Zeit,
die ragen ins Land,
weiß auch das Segel des Sommers
hinter dem Wolkentuch.
Sammle in
die Kornkammern des Lebens
deinen Wunsch,
deinen Traum, 
deine Seele.

Leben

Noch im Hinterfragen
nach einer Hand fassen,
als gäbe sie halt
und ließe dich Wurzeln schlagen,
als seien alle Fragen
in sie verwoben und umschlossen
und so das Leben wagen
gegen den Tod
und alles Vergessen,
hoffend,
daß hinter dem Leben
immer das Leben wohnt.

Beugung

Beug dich,
beuge dich sacht,
als pflücktest du
das Moos deiner Liebe,
und folge dem Flug des Schmetterlings,
dessen Flügel schon
vom Staub gezeichnet sind,
der dich wärmt.
Brich' mit dem Strahl
durch die Wolkendecke,
und gib der Seele Raum,
daß sie gefüllt wird mit Gutem,
ein blühender Zweig
sei dein Auge,
ein schimmerndes Netz
deine Zeit.

Beobachtung im November

Dunstig der Tag,
die Reusen des Lichts liegen fern,
an kahlen Bäumen entlang
führt dich dein Schritt,
die Landschaft
zieht ihr Gesicht zu
vor dem nahenden Winter.
Was dich erwartet,
weißt du nicht,
nur die Erinnerung steigt
mit dem Nebel
ins leere Nest
und vielleicht ist dies
das Zeichen für Freiheit.

Landschaft

Brachland,
auch hier vor der Dämmerung,
Land, zu bebauen dem Stern
und dem Staub,
hier hast du dich niedergelassen,
hier findest du Worte,
bevor sie versinken aufs Neue,
von der Herkunft in die Hinkunft,
geschöpft und geritzt
in die steinige Landschaft,
gefunden und wieder bestellt,
über dem Staub und dem Schweigen,
dem Atem in dir.

Vergänglichkeit

Es scheint alles gesagt,
der Traum und
der Traum im Traum,
der Schlaf und die Liebe,
die Kühle dieses Nachmittags,
die Zeit nimmt dich mit
im Strom der Gedanken,
hißt ihr Banner
in den Schatten spendenden Baum,
durchwirbelt von Herbstlicht,
das schon die Spur
der Vergänglichkeit trägt,
so auch in dir tönt es nach,
im Kahn des Vergessens.

Liebe und Tod

Aus fremder Umschattung
bricht leise die Blume,
die dir ans Herz wuchs,
im Eis kam die Zeit,
die dich küßte,
kam mit dem Feuer
und spielte dein Fleisch,
deine Seele,
ein frierender Kahn in der Dämmerung,
dein Aug',
ein wachsendes Aug',
deine Schläfe,
ein Saum des Verlangens,
es ist weil
es ist dunkel geworden
durch dein Haar
weht nur mehr der Wind,
träufeln Liebe und Tod.

Kreise

Stimmen, von weit
über die Ufer getragen,
so wie der Nebel dampft
über der Flut,
so der Strom
eine Lanze für's Leben,
so die fallenden Blätter des Herbstes.
Was weißt du?
Was hast du verloren?
Immer die Zeit,
die an Heimat grenzt,
an das Wort,
das ich rief,
immer die Stunde,
die sich verbarg in der Angst,
im Noch-Nicht und Doch-Schon,
in den Kreisen der Stille.

Geist

Du stehst in mich hinein
wie das Dunkel am Abend,
das jetzt fällt mit dem Nebel
am Ufer.
Einst,
ein Wort, das trügerisch wirkt
und doch lebte ich es,
für dich, für die Stunde.
Die Erinnerung,
ein Zeichen für Freiheit
oder nur ein Gefängnis,
ein flüchtiger Traum,
das war, was nicht ist?
Und du?
Was grämst du dich weiter im Herzen -
daß kein Bleibendes wohnt
unter den Menschen?
Und doch ist in wacher Stunde
der Geist, der vollendende, da.

Schrift

Das blinde Wort
gelegt zu den Blättern,
das Licht schießt
ins Auge der Zeit,
deine Inständigkeit
wird begrenzt durch den Satz,
hart wölbt sich die Mitte.
Wenn alle Müdigkeit sinkt,
bist du fernab mit dem Staub.
Nur die Sehnsucht, sie bleibt
und schreibt ihre Schrift
in die Münder.

Spät

So spät schon im Herbst,
die Bäume haben
ihr Kleid abgeworfen,
nun sind die Wege kahl
vor dem nahenden Winter,
doch im schimmernden Wasser
bricht sich noch leuchtend ein Strahl,
flutet das Licht
durch die ruhende Landschaft,
und du weißt,
Sterben ist immer ein Auftrag,
ist Anfang für dich.

Einer

Einer muß wachen,
muß wachen,
wenn die Sterbenden ziehen.
Einer muß vor den Toren der Stadt
Ausschau halten,
damit das Öl nicht erlischt
in den Lampen.
Einer muß dasein,
der die Ohnmacht kennt,
damit die Macht nicht
überhand nimmt.
Einer muß das Geheimnis der Zeit kennen,
damit sie nicht davon rennt.
Einer muß sein letztes Brot teilen,
damit die Hungernden satt werden.
Einer muß der Engel der Kinder sein,
damit sie behütet werden vor Unheil.
Einer muß die Sprache der Liebenden sprechen,
damit das Wort noch gilt.

Einer muß dasein, einer von uns.

Der Freund

Saufkumpanen könne er
an jeder Ecke finden,
aber einen Freund
habe er nie gehabt im Leben,
sagte der Straßenbauer und Plattenleger
zu mir,
als ich bei ihm zu Gast war.
Aus dem Radio
erklang Musik zum Träumen.
Ich, der arme Dichter,
dankte ihm
für den Tabak,
den Kaffee,
sein Bett, das er mir anbot,
für die Brötchen,
die er morgens vom Kiosk holte.
Draußen schlug der Regen
gegen die Fenster
seiner Dachwohnung,
und ich dachte,
hier ist es gut sein,
ein Freund dem Freund.

Der Engel der Stadt

Der Engel der Stadt
sagt dir: stehe auf,
mitten in der Finsternis
bin ich dein Engel,
mitten,
in dem, was dich blenden
und verwirren will,
bin ich dein Schutz,
lege dich nieder
in die Arme der Bettler,
die bitten,
sie sind deine
Schwestern und Brüder,
sie geben dir
Trost für dein Herz,
mitten im Lärm der Bilder
will ich dich halten
und mit dir gehen,
mitten in deiner Angst
will ich das Brot brechen
mit dir
und mit dir üben
den schmalen Weg der Feindesliebe,
bis daß kein Hass mehr
deine Seele bewegt,
sondern der tiefe Friede in mir.

Die Grenze

Irgendwann
stößt man auf eine Grenze,
du kannst
nicht einmal sagen,
woher sie kommt,
sie fühlt sich an
wie eine Narbe
auf deinem Leib,
du weißt nur,
daß sie ganz zu dir gehört
und keinem Anderen ansteht,
du hörst sie wie eine Stimme,
die dich ruft,
wie ein Gesetz,
das deinen Namen trägt
und nur den deinen,
dann weißt du,
daß es Zeit ist zu gehen,
weil die Anderen warten,
hinter dir,
wie die Nacht
auf den kommenden Tag
und nur
ein Schweigen zurückbleibt,
das
alles sagt.

Am Abend

Der Wind fährt durchs Geäst
wie der Kamm durch dein Haar,
und nur die Amsel schlägt weiter
ihr Lied auf den Dächern,
die, die jetzt kommen,
sind deine verlassenen Tage,
die Feste des Sommers
sind verhüllt in der herbstlichen Sonne,
die Trauben reif für die Winzer,
das Korn geerntet
für die Nacht und die Schwere,
festgemacht
an den großen Steigen der Welt.

Erinnerung

Es scheint alles vergessen,
der Nebel, die Krähen,
das dampfende Wasser, 
das verlassene Dörfchen
irgendwo bei Nordhorn.
Ich bin nicht mehr der,
der ich war,
aber war ich jemals der,
der ich bin,
oder war es nur
ein Schein von mir, ein Schatten,
der fällt auf mein nacktes Gesicht?
Und doch ist da etwas,
auch wenn du nicht weißt, was,
( uns was weißt du schon ),
ist etwas im Licht,
das aufsteigt im Baum.

Lied des armen Dichters

Wir Dichter,
rufen in die Stille
des Augenblicks,
gleißend wie das Licht
von einer Stelle zur anderen,
wir, mit dem Mantel des Herzens
bedeckt,
hauchdünn unter der eigenen Haut,
wir, immer bereit zum Abschied
von einem Wort
und immer zollend dem nächsten,
mit dem Faden der Kargheit,
ohne zu wissen warum.

Chor der Kranken

Zwischen den Kliniken gehen wir,
eingetaucht mit unseren Hälsen,
immer dazwischen,
im Schlepptau der schweren Kähne,
immer liegt ein Ufer vor uns,
hinter uns, neben uns,
immer heben wir den Kopf
nach jedem Anlauf,
um eine Stelle zu finden,
wo man uns läßt,
vielleicht wie die Wolke,
die rosige Wolke, die leuchtet
und nicht gleich gebietet,
wir sind so zerbrechlich geworden,
als wären wir an Fäden gesponnen
und hingen in der Luft,
unter uns die Leere,
in die wir fallen könnten,
wie verläßlich ist ein Tisch,
an dem wir zu Gast sind,
wie verläßlich ein Mund,
der zu uns spricht,
ein Gesicht, das uns anschaut,
wie verläßlich die Hand, 
die uns im Dunkel hält?

Wüstenstimme

Für Joseph Kopf
Mit deiner Wüstenstimme
besprichst du den Staub
und die Sterne.
Sonnenwind,
eins mit dem Traum,
schöpfst aus den blauen Zisternen
die Sprache,
abzugeben auch mir,
dem armen Dichter,
wissend
um dich und die Zeit.

Das Meer

Noch überschäumt das Sonnenlicht die Stadt.
Darüber hoch die Wolken schweben.
Sie ziehen weiter wie ein großes Rad,
das wie die Menschen keine Ruhe hat.
Und auf und ab mit grünen, blauen Wellen
ragt groß dahinter auf das weite Meer.
Es ist ganz weiß an manchen Stellen,
dort wo die Gischt den Felsen jäh erfasst.
Noch hält er wie seit vielen, vielen Jahren,
der Mensch jedoch ist wie ein buntes Spiel
tanzender Wogen, Schiffe und Fanfaren,
der Segel Brände um ein hohes Ziel.
Nur manchmal, wenn's fast stille in den Häfen,
wenn selbst die Fischer ruhen an dem Strand,
da überkommt es dich, als wenn sich beide träfen
die volle Zeche und die hohle Hand.

Referat

Zu Ende gesprochen.
Es ist, als wäre etwas gesagt,
der Tatbestand
( Landschaft, mit Hünengräbern verschlossen,
darüber des Lichts
unendliche Fülle).
Das Podium öffnet sich:
wir leben in welcher Zeit?
An wen die Fragen?

Gewissheit

Und wieder die Zeit
und das Sterben,
dieses Gefügte,
nicht Verfügbare in uns,
aus dem heraus wir schauend werden,
immer gewiss,
dass sie Stunde kommt;
und mit dieser Gewissheit
sich neu geschenkt werden,
als entdecke man
die andere Seite des Lebens,
mit der Spur
von Himmel und Erde
in uns.

Sehen

(für Hilde Domin)
Der noch blühende Baum
zwischen den Häuserfronten
aufragend - :
und stündlich
wird es leiser für uns
das Leise durch den Lärm tragend
stündlich.
Und immer wissen,
das es uns geschenkt ist,
die Stunde, die Zeit,
Tag und Nacht.
Und so sehender werden
für das Kleine,
das keine Stimme hat,
bis auf den Grund sehend werden
für das Leben in uns.

Geben

Irgendwann,
wenn dir die Worte fehlen,
wenn es dir die Sprache verschlägt,
macht es keinen Sinn 
mehr zu reden;
Du hast deinen Kopf 
hingehalten.
Du hast das Letzte
aus dir herausgeholt,
du hast versucht zu trösten.
Wenn deine Worte
verhallen im Wind,
wenn du wie gegen
Wände sprichst,
dann rede nicht mehr,
sondern kehre ein in die Stille,
und wünsche dir
ein Haus voll Zeit,
so sei gewiss,
wenn die Ernte kommt,
hast du wieder 
neue Kraft, abzugeben.

Das schweigende Wort

Die Stille hören,
und es blättert
der Staub
von den Bäumen,
eine Träne
wegwischend dem Unfassbaren
wie eine Knospe
sich öffnet
dem Tau des Lichts,
zwischen Himmel und Erde
sich spannend,
und so
immer hörender werdend,
vor - dem schweigenden
Wort:

Das Fraglichste

Wenn es hinter allem Sagen
kein Sagen mehr gibt,
dann wird das Sagen
zum Gesagtesten.
Wenn es hinter allem Staunen
kein Staunen mehr gibt, 
dann wird das Staunen
zum Erstaunlichsten.
Und wenn es hinter allem Fragen
keine Fragen mehr gibt,
dann wird das Fragen
zum Fraglichsten.