Friedemann Schäfer

Die Fahrkarte ins Paradies

Gedichte

Meinem Freund Gotthard Lukas
in Dankbarkeit gewidmet,
der mir half,
meine Schwäche zu sehen:
und mit liebevoler Unterstützung
meiner Freundin Anette Belka,
die mir immer eine aufmerksame 
Zuhörerin war . . . 

Die Fahrkarte ins Paradies

Die Fahrkarte ins Paradies
ist nicht zu teuer,
sie liegt nicht
in den Safes der Banken,
sie ist kein Geschäft, 
das wir abwickeln könnten
wie in einem Kontor,
sie steigt nicht mit den Aktien,
sie ist nicht zu teuer,
es gibt sie nicht an den Schaltern
oder an den Ständen der Souveniers,
sie ist nicht zu teuer.
Vielleicht finden wir sie
eines Tages
auf einem abgelegenen Weg,
mitten in einer Lichtung,
gefüllt vom Mückentanz,
und wir heben sie auf,
fast wie ein weißes Stück Papier,
auf dem nichts weiter steht
und stecken es in unsere Manteltasche
und atmen den Tannenduft
und sind beglückt
und wundern uns,
daß wir sind
und daß wir sie gefunden haben,
die Fahrkarte ins Paradies.

Die Geduld

Die Geduldigen dulden
noch längst nicht alles,
sie haben keine Engelsgeduld,
aber sie jagen
auch nicht nach dem Glück,
weil sie wissen,
daß sie es so
niemals erreichen werden,
daß alles seine Zeit braucht.
Sie gehen
den Dingen auf den Grund,
sie fassen sie bei der Wurzel,
so sind sie 
gefestigt gegen den Sturm
und stürzen nicht ein
bei der ersten Gelegenheit,
sie behalten sich vor zu sprechen,
sie behalten sich vor zu schweigen,
sie wissen um ihre Zeit,
sie können warten.
Ihnen reißt nicht die Geduld
und damit auch nicht der Faden,
sie dreschen
nicht wild drauf los,
denn sie wissen, 
wann das Korn reif ist.
Dann ist ihre Freude
allerdings groß,
denn dann ernten sie
die Früchte ihrer Geduld,
so sind sie mutig,
sie sind
nicht
die Feigen am Baum.

Wundere dich nicht

Wenn die Zeitungen ausbleiben,
wundere dich nicht, 
sie sind dem Gesetz
der Zeit unterworfen,
sie sind nur zeitgemäß,
sie haben ihre Zeitgenossen.
Wenn die Zeitungen ausbleiben,
wenn sie nicht mehr zu kaufen sind,
wundere dich nicht,
vielleicht, daß du ohne sie
leben lernst,
ohne den täglichen Druck,
vielleicht, daß du auf einmal merkst,
was das Schweigen bedeutet
und daß zwischen seinen Zeilen
mehr steht als nur der Schlaf,
vielleicht, daß du lernst
zu träumen,
vielleicht, das du zum ersten Mal
die Sprache wirklich verstehst
und vielleicht auch die Menschen
und vor allem dich selbst.
Wenn die Zeitungen ausbleiben,
wundere dich nicht,
vielleicht, daß du die Organe
neu spürst,
daß du spürst dein Gesicht,
daß du hörst deine Stimme,
daß deine Hand ganz leise
jemanden berührt
und daß du vielleicht lernst,
in den großen Büchern
des Lebens zu lesen,
die geschrieben sind
vor deiner Zeit,
die nicht voreilig sind,
aber die dir
unbedingt verzeihn.

Die Schwäche

Die, die Schwäche zeigen,
verlieren noch lange nicht ihr Gesicht,
sie werden die Starken überdauern,
sie sind wie das Wasser,
sie behalten sich vor
angenommen zu sein,
sie schwemmen ihre Tränen
hin zum Meer,
sie sind wie die Wellen, 
sie überwinden den Stein,
sie gestehen sich ein,
nicht alles zu wissen,
sie sind, weil sie sind.
Sie sind wie das Wasser,
wenn es von den Bergen fließt
in das grünende Tal,
sie spenden ihre Kraft dem Wuchs,
sie geben nach,
sie stellen die Weichen,
denn ohne sie würden alle Züge
in die falsche Richtung fahren,
sie würden ihr Ziel verfehlen,
sie kämen nie an,
sie aber, die Schwäche zeigen,
behalten den Überblick,
so sind sie,
- ohne es selbst zu wollen -,
die Weichen dieser Welt.

Die List

Sie ist wie die Schärfe des Skalpells,
sie zerschneidet fast die Luft,
sie ist scharf und gefährlich, die List,
sie schleicht sich heran wie die Schlange,
sie züngelt verführerisch an jedes Ohr,
sie macht ihre eigenen Gesetze, die List.
Noch immer tanzt sie ums goldene Kalb,
denn sie zischelt vom glatten Erfolg,
vom unendlichen Gewinn, die List.
Sie glänzt in den Spiegeln der Geschäfte,
sie steht immer bereit zum Sprung,
und sie findet ihr Opfer,
sie brennt ihr Siegel in seine Haut,
aber sie tröstet es nicht, die List,
sie läßt die Narben nicht verheilen,
denn sie hat es sehr eilig, die List.
Sie untergräbt jedes Vertrauen,
sie schürt überall die Angst,
sie taucht auf, wo sie nur kann,
sie ist gerissen, die List.
Wir aber, die um sie wissen,
sollten unseres Bruders Hüter sein,
daß Kain nicht wieder Abel erschlägt,
daß sein Zeichen noch gilt.

Die Achtung

Wer anderen Achtung schenkt,
findet auch vor sich selbst Achtung,
er nimmt sich in acht,
er ächtet niemand.
Wer anderen Achtung schenkt,
wendet sich ihnen zu,
er hört hin,
er hört auf seine innere Stimme,
er weiß um seine Schwachheit,
so zerbricht er nicht,
er bricht nicht den Stab über andere.
Wer anderen Achtung schenkt,
der weiß um seinen Platz,
er spricht nicht stellvertretend
für andere,
er macht ihnen
ihren Platz nicht streitig,
er gewährt ihnen Raum,
so findet er zu sich selbst,
so ist er der Retter,
er rettet sich 
an das Ufer der Freude,
denn es freut ihn,
wenn es anderen gut geht,
weil es ihm selbst dabei gut geht,
weil er die Achtung schätzt, 
weil er weiß,
daß sie sein höchstes Gut ist,
so wächst er über sich hinaus,
so behält er Würde,
so achtet er auf den Weg,
so hat er sich gefunden,
so ist er glücklich,
glücklich,
ein Mensch zu sein, der liebt.

Auferstehung

Jenseits von uns 
liegen die Toten
und doch so nahe,
daß wir fast
die Sprache darüber vergessen,
unsere Haut berührt die Ihrige,
mit ihren Stimmen
dringen sie an unser Ohr.
Wir sind die Fliehenden,
sie aber holen uns ein
wie die Fischer die Netze am Abend
und geben uns von ihrer Stille
und umarmen uns
und lassen uns nicht los,
denn sie haben gelernt
mit uns umzugehen.
Freundlich sind sie,
sie haben überwunden,
sie geben uns von ihrem Lohn
und dem Maß,
unser Leben neu zu messen,
sie schätzen uns sehr,
denn sie haben uns
noch nicht aufgegeben,
sie glauben an uns,
sie trauen uns zu,
von Ihnen zu lernen,
ihre Gewichte hängen sie
über unsere Schultern,
sie möchten,
daß wir sie verstehen,
daß wir ihnen zuhören, wenn sie uns
ihre Geschichten erzählen,
sie möchten uns,
- nichts lieber als dies -,
zum Leben erwecken.

Die Gier

Die Gierigen
haben große Augen
und große Münder,
sie verschlingen alles,
sie kriegen nie genug,
sie sind die Unersättlichen,
sie kennen daher keinen Frieden,
weder mit sich selbst
noch mit den Anderen,
so sind sie vielleicht
die Väter des Kriegs,
aber ihren eigentlichen Feind
erkennen sie nicht,
denn der eigentliche Feind
sind sie selbst,
anstatt also
mit sich selbst zu kämpfen,
suchen sie Streit mit Anderen,
sie sind unersättlich,
deshalb ernten sie nichts,
obwohl ihre Scheunen voll sind,
aber sie bauen sie größer und größer,
die Gierigen, die unersättlich sind.
Nichts geht ihnen schnell genug,
sie verweilen nicht bei den Dingen
und schon gar nicht bei sich selbst,
im Grunde sind sie besessen,
sie kennen die Zeit nicht,
denn sie rasen ihr dauernd davon,
obwohl sie sich glauben machen möchten,
daß es die Zeit ist, die rast,
sie sitzen zuerst,
und sie stehen zuerst auf,
aber wie die Letzten
die Ersten sind,
sind auch die Ersten 
die Letzten.

Die Kraft des Brotes

Die Kraft des Brotes
ist noch nicht ausgegangen,
noch trägt sie die Erde,
sie ist in den Mündern der Hungrigen
und in den Mündern der Satten,
sie ist noch nicht taub geworden.
Sie legt sich als Schatten
neben die Betten,
sie beugt sich im Traum
mit den Garben,
noch hört sie uns,
denn sie ist die Kraft.
Sie kennt die Sprache der Liebenden
und die Sprache der Schwachen,
noch trägt sie die Erde,
sie ist das Innerste in uns,
die Gierigen jedoch läßt sie leer
und eitel zurück,
sie durchmißt nicht ihr Herz
und wenn sie sterben, sind sie allein,
sie bleiben ungetröstet,
sie läßt sie leer ausgehen,
die Gewaltigen kennt sie nicht,
sie sind kalt und unduldsam
wie das Schwert,
sie aber trägt noch die Erde,
denn sie ist die Kraft,
noch säuert sie das Brot,
noch schmückt sie die Gaben,
sie ist unser tägliches Essen,
sie ist unser wirklicher Leib.

Der Anfang

Wer den Anfang macht,
ist manchmal der Dumme,
es trifft ihn zuerst,
aber er ist auch der Mutige,
er ist der, der uns weckt,
und ohne ihn wären wir nicht,
wir würden uns selbst
abhanden kommen,
wenn wir den Anfang vergäßen,
wir würden uns nie erkennen.
Der Anfang aber setzt die Akzente,
er eröffnet den Weg,
er ist das Nadelöhr,
durch das wir schlüpfen müssen,
er bleibt scheu wie ein Tier.
Der, der den Anfang macht,
geht über sich hinaus,
er wächst mit dem Anfang,
aber er kann wiederum
nicht hinter
den Anfang zurück,
denn der Anfang ist der Anfang.
Wer den Anfang schafft,
der schafft sich selbst,
aber nicht nur,
denn der Anfang geht ihm voraus
wie die Wolke dem Regen,
wie die Wurzel dem Baum,
er ist nötig, der Anfang.
Manchmal jedoch
erschrecken wir über den Anfang,
dann nämlich, ist er, der Anfang,
nur das Ende vom Lied.

Die Probe

Wer die Probe macht,
setzt meistens ein Exempel,
er geht durch das Feuer,
aber ohne zu verbrennen,
er bleibt heil.
Wer die Probe macht,
der wird erprobt,
er kennt seine Preise,
aber er will nicht alles
um jeden Preis,
er will die Probe bestehen,
er probiert deshalb nie willkürlich.
Wer die Probe macht,
der ist meistens hinterher klüger,
denn er lernt zu unterscheiden,
er ist scharf sinnig,
er vermischt nicht
das Trübe mit Hellem,
denn er weiß,
daß sonst alles trübe wird.
Er aber ist bei der Sache,
er läßt sich nicht täuschen,
denn es ist seine Probe
und selbst,
wenn er durch die Probe fällt,
steigt er im Grunde,
denn er weiß:
ohne Fall, keine Höhe,
ohne Ferne, keine Nähe,
ohne Verlust, kein Gewinn.

Stunde der Toten

Land, und wieder
kehrst du zurück,
unsere Stunden haben
die Augen so leer gewacht,
die Stummheit hat
an unseren Tischen
Platz genommen,
wir haben einander gekannt,
jetzt sind wir Fremde
im eigenen Herzen.
An manchen Tagen jedoch,
ohne daß wir es verstehen könnten,
steigen aus ihren Gräbern die Toten,
mit leisen Füßen gehen sie
an die Pfosten der Türen,
bestrichen mit unserem Blut
und klopfen an
und bitten um Einlaß.
Sie sind unsere
besten Gäste geworden
und wir feiern die Feste
und bringen die Gaben.
Sie haben das sagen,
denn sie leiden anders als wir,
sie haben das Sagen,
unser Reden hat sie geweckt,
sie verstehen die Stummheit,
sie sind nicht vermessen,
sie schwimmen von Ufer zu Ufer,
von Haus zu Haus,
von Namen zu Namen,
sie haben uns nicht vergessen.
Sie geben uns von ihrem Öl,
damit unsere Lampen nicht verlöschen,
sie verstehen die Stummheit,
sie sind die großen Zeiger
im Uhrwerk der Welt.

Das Nächste

Wir stehen an den Fenstern
und hoffen auf es,
auf das Nächste,
wir zerreiben es mit unseren Fingern,
wir führen es an unsern Mund,
wir sprechen es aus,
denn es ist uns das Nächste.
Wir legen es auf die Spitze
unserer äußersten Angst,
wir zittern bei seiner Berührung,
es ist uns das Nächste.
Wir laden es ein an unseren Tisch,
wir sagen ihm Gute Nacht
und wünschen ihm Guten Morgen,
wir schmiegen uns
an sein zartes Fell,
und wir beben,
wenn es uns verläßt,
es ist uns das Nächste.
Wir sagen ihm, 
was uns nicht passt,
es ist nicht nachtragend,
es möchte uns immer verzeihn,
das Nächste.
Es kommt mit den Wolken des Himmels,
es wächst aus der Erde tiefem Schoß,
es ist unser bester Freund,
es steht uns bei,
es ist uns das Nächste,
so nah,
daß wir selbst die Nächsten sind.

Blumen

(für Juliane)
Blumen,
ihr leuchtenden Farben,
ihr vor uns Gewesenen,
feuerrot brennend
mit dem Abendhimmel
oder grün auch wachsend
am Abgrund
ihr nie Ergrauten,
ihr immer Hoffenden,
wir fragen euch nicht,
ihr blüht schön und hell
an den Wegen, wir fragen euch nicht,
euer Duft
schmeckt süß auf den Zungen,
ihr schenkt euch den Liebenden,
ihr steht
bereit für den Abschied,
Trostbringer,
für unseren zitternden Mund.

Mirjam

Warm geworden ist der Wein
in unsern Mündern, Mirjam,
und wir gehen an späten Tagen
und zählen die Schatten,
sie sind wie die Würfel gefallen,
wir aber sehnen uns
bei ihrem Anblick
für Augenblicke fort
um neu und ohne das Gefühl
versagt zu haben,
standzuhalten,
um zu wehren den Wogen,
um noch einmal hinauszuschauen,
um dich zu sehen, Mirjam.
Noch einmal gehen wir,
ohne Habe
und nur mit dem Nötigsten versehen,
trockenen Fußes durch das geteilte Meer,
um dich zu sehen,
um zu sehen, daß es doch wahr ist,
dein Lied,
daß die blitzenden Waffen Pharaos
uns nichts anhaben können,
daß sie uns nichts nützen,
daß wir dich hören, Mirjam,
daß wir hören deine Stimme,
und daß wir uns wundern, Mirjam,
wundern,
daß es dich gibt.

Das Auge der Kranken

Das Auge der Kranken 
ist noch nicht müde geworden,
es wacht über uns,
es will uns heilen,
es ist der Beter
unter den Stummen,
es weiß, wieviel Zeit wir brauchen,
es wünscht uns, daß wir
das Dunkel erkennen in seinem Licht,
es schäumt wie das Meer,
es strandet
an unseren tiefsten Stellen,
dort, wo wir
am meisten verwundbar sind,
dort reicht es hin, es lehrt uns den Balken zu sehen
im eigenen Auge,
es wacht über uns,
wir können es nicht ausreißen,
nicht einmal wie einen Baum,
so tief verwurzelt ist es,
es will, daß wir aus
seinem Blickwinkel sehen,
daß wir uns nicht 
aus dem Staub machen,
denn Aug in Aug
sind wir gleich,
sind wir selber das Auge,
das wacht und nicht ruht,
bis es uns gefunden hat,
bis es weiß,
ganz sicher weiß,
daß es uns gibt.

Das Lächeln

Nicht mit dem alles
betäubendem Lärm,
nicht mit den 
gepeitschten Hunden,
den gehetzten,
kommt das Lächeln,
es lehnt an den
warmen Mauern des Lebens,
es trennt uns nicht von uns selbst,
sondern es gehört einfach dazu,
so, als sei es
das Selbstverständlichste
der Weltgeschichte.
Es bedarf keiner Sondermaschinen,
es ist
nicht einmal unbedingt lustig,
es ist auch nicht vorwitzig
oder gar eitel,
es hat es nicht eilig, das Lächeln.
Es steht in keinem Telefonbuch,
es steht nicht einmal
in einem Nachschlagewerk,
es sitzt auch nicht am Fenster
und schminkt sich,
es läßt sich nicht irre machen,
es gehört dazu,
aber es stiftet unbedingt Frieden.
Es ist so leise
wie der Gesang eines Vogels,
es nistet sich ein
in ein Gesicht, das es liebt,
es gehört uns ganz das Lächeln,
es ist unbedingt offen,
es trägt sich leichter zu zweit,
es ist die Vorstufe zur Zärtlichkeit,
es ist nicht unersättlich,
es schützt uns zu leben.

Altern

Und wieder trittst du hinaus
in den Garten der Kindheit,
du bereitest ein weißes Tuch
aus auf deinem Tisch,
das so weiß wie dein Haar ist,
und so weiß wie der Schnee,
wenn er fällt
so frisch wie das Wasser, 
wenn es von den Bergen kommt,
von den äußersten Gipfeln,
du schwimmst noch einmal vorbei,
an der Stadt, an den Dächern,
in ihrem Anlitz ißt du dein Brot,
und du lächelst vielleicht,
vielleicht weil du weinst,
weil du weißt,
es geht alles vorüber,
dein Atem ist auf einmal so leicht,
so leicht wie die Luft,
die dich gerade noch trägt,
die in dich hineinhorcht,
und du fragst dich,
fragst dich erneut,
wie wichtig du warst
oder auch wie unwichtig,
und je mehr du fragst,
erinnerst du dich,
und je mehr du dich erinnerst,
fragst du,
bis du dir selbst zur Frage wirst,
zur einzigen Frage,
die dir keiner mehr nimmt.

Der Engel

Wenn alles nicht mehr gilt,
wenn die Wachtposten abgezogen sind,
steht auf der Engel,
er legt sein nasses Tuch
über die Erde,
er füllt die Wohnungen
mit seinem Geruch,
er winkt, 
daß wir kommen.
Er lehnt uns nicht ab,
denn er weiß,
wie es um uns steht,
er lehnt uns nicht ab,
er hat Zeit,
aber er ist nicht käuflich
wie die Verschwiegenheit,
er will nicht über uns richten,
denn er ist unser Engel,
er weiß,
daß wir nur Menschen sind,
daß wir einsam sind, wie er,
er kennt unsere wahren Gefühle,
er ist nicht unnahbar.
Wenn alles nicht mehr gilt,
wenn die Wachtposten abgezogen sind,
steht er auf
und beschenkt uns,
so, daß wir uns fast schämen müßten,
er grüßt uns,
er zeigt in die Ferne,
woher er kommt,
er richtet uns auf
für den langen Weg,
den wir gehen müssen
und daß wir, mit ihm,
spüren,
was gilt.

Die Liebe

Die Liebe billigt nicht alles,
sie ist nicht billig,
aber sie rechnet auch nicht alles auf,
sie ist die Liebe,
sie schenkt uns Zuversicht,
wenn wir nichts mehr erwarten,
sie läßt sich nicht fangen
wie ein Fisch,
sie dringt durch die Netze,
sie läßt sich nicht einsperren,
sie durchbricht die Mauern,
sie ist die Liebe,
sie ist nicht habsüchtig,
sie geht nicht nach der Mode,
sie ist nicht einmal elegant,
sie faßt sich aber ein Herz, die Liebe.
Sie konkurriert nicht mit uns,
sie fällt uns nicht gleich ins Wort,
sie kontrolliert uns nicht,
denn sie ist mit uns, die Liebe.
Sie ist nicht aalglatt,
sie bringt nicht alles
rasch über die Bühne,
sie vertraut uns ganz,
sie lächelt uns zu,
ohne uns zu verlachen,
sie macht sich
nicht lustig über uns,
aber sie macht uns
auch nichts vor, die Liebe.
Wir können sie nicht
auswendig lernen,
wir bringen sie auf keine Formel,
sie aber, die Liebe, formt uns,
ohne uns zu uniformieren,
sie läßt uns los,
ohne uns fallen zu lassen,
sie ist nicht herrschsüchtig, die Liebe.
Sie ist wie der Samen,
ohne den nichts wächst,
ohne den jeder Grund
zugrunde ginge,
jede Spur im Sand verläuft,
jede Hoffnung zerbricht.
Denn sie, die Liebe,
ist allgegenwärtig,
sie ist gewaltig, ohne Gewalt,
sie ist mächtig, ohne Macht,
sie ist erhaben, ohne zu haben,
sie ist nicht verfügbar
wie der Besitz,
doch fügt sie alles,
denn ohne sie, die Liebe,
wären wir nicht.

Versöhnung

Wir haben die Lieder verlernt,
die Lieder der Sterne,
den Grund, der uns hält,
nun sind wir uns selbst
zum Abgrund geworden,
in unseren Wüsten
wollen wir überdauern,
wir haben uns
bis in das letzte Kalkül gezogen,
bis in das feinste Atom,
dennoch sind
unsere Träume geblieben,
sie gelten wie gestern
und es ist tröstlich,
um sie zu wissen.
Es ist tröstlich zu wissen,
daß die Nacht kommt
und wir die Kleider ablegen können
nach einem langen Tag
und es manchmal eine Hand gibt,
eine Hand, die,
ohne das wir es ahnten,
neben der unsrigen ruht,
die uns nimmt wie wir sind,
die uns sein läßt, trotz allem,
eine Hand, die uns
schützt vor uns selbst,
und wir stehen auf
an einem Morgen,
dunstig noch von frühem Sonnenlicht
und umarmen die Welt.

Die Botschaft

Du aber schreibst sie am Abend,
die Botschaft für viele,
sie geht durch die Türen
der längst Verlassenen,
sie setzt sich ans Bett
zu den Kranken,
sie zählt ihre Tränen wie Bäche,
sie beichtet den Toten
ihr letztes Geheimnis,
du hebst sie auf
für das noch unerfüllte Glück,
für das verlorengegangene Ziel,
für den tiefsten Gedanken,
du hebst sie auf,
denn sie sind kostbar geworden,
doch ohne den Anspruch,
vollkommen zu sein,
sie wächst wie
das bittere Kraut des Schweigens,
sie ist wie die Ohnmacht,
wenn du jemand verlierst,
sie jedoch geht nicht verloren,
sie ist
zur größten Stille geworden,
sie weiß
um unsere inneren Schwingungen
und um die Flügel,
die uns fehlen, 
um wieder ganz zu sein,
du schreibst sie auf
die Botschaft für viele,
die doch nur wenige verstehen.

Der Flötenspieler

Der Mann mit der Flöte
ist so leise geworden,
er antwortet nicht mehr
auf unsere Fragen,
er ist uns keine
Antwort schuldig,
seine Töne
sind verhallt im Wind.
Wenn wir ihn wiedersehen,
merken wir es kaum,
denn er ist
so langsam geworden,
daß seine Hoffnung 
fast zerbricht.
Unsere Rufe könnten
ihn stören,
aber er
beachtet uns dennoch,
seine Haut ist so nackt,
er ist fast unsichtbar,
aber er geht uns voran,
er zeigt uns die Töne,
die wir lernen müssen, 
um zu verstehen,
vielleicht zeigt er uns
das Überleben,
jenen Kunstgriff,
ohne den
wir sterben müßten,
ohne Sinn.

Die Stille

Vielleicht wäre es
fast schon zu viel,
ja vielleicht
schon vermesssen,
ein Lied zu singen,
ein Lied,
nur für die Stille.
Sie hält inne,
sie ist das Instrument,
an das niemand rührt,
vielleicht gleicht sie den
Gesichtern der Toten,
auf die noch einmal
das Licht einer Kerze fällt,
denn sie ist
so still, die Stille.
Sie verzehrt,
ohne sich zu verzehren,
sie springt nicht plötzlich
auf wie ein Hund,
aber sie wacht,
es ist dies ihr Geheimnis
und zugleich ihre Macht,
daß sie nicht
beliebig zur Hand ist,
daß sie uns entgleitet,
sobald wir sie fassen wollen.
Aber vielleicht hört die Stille,
ohne uns zu gehören,
vielleicht strömt sie,
ohne sich zu verströmen,
und vielleicht ist sie
weiser, als wir annehmen,
vielleicht gibt sie Anstoß,
ohne zu stoßen,
weil sie anscheinend
nichts ist, die Stille,
aber wie
stille Wasser tief sind,
so ist auch die Stille
tiefer als ihr Grund.

Das Kostbarste

Müde geworden
ist die Sprache
auf unseren Zungen
vom all zu viel Gesagtem,
zerredet das 
Blattwerk im Mund,
trügerisch glänzt der Besitz,
denn er täuscht,
so daß wir erstarren könnten,
wenn wir uns umschauen,
unsere Augen sind
kalt geworden im Wind,
sie tragen nicht mehr,
sie sind
unsere schlimmsten Feinde geworden,
sie tragen nicht mehr,
bald wird uns
auch das Schweigen verboten,
über das hinaus
nichts Kostbares wächst,
nichts atmet in uns.

Es ist da

Es dringt
in den äußersten
Winkel der Erde, 
es schreibt sich
taub mit den Fingern,
es tanzt
auf den höchsten
Seilen der Stadt,
es ist da.
Wir aber wollen
von ihm nichts wissen,
denn es erreicht uns nicht,
wir haben es wundgerieben
mit unseren Rücken,
es taugt nicht auf den Schein
und wir haben vergessen
es anzunehmen.
An einem Abend jedoch,
mit dem Fallen der Schatten,
sitzt es auf einem Stein
und hält Ausschau nach uns
und möchte uns helfen.
Es hat keine
anderen Hände als wir,
es hat kein anderes Ohr
und keinen Mund,
der es ausspricht,
es ist das Verletzlichste in uns,
vor dem wir vielleicht erschrecken,
es reicht nicht aus
für den kurzen Bedarf,
es steht
jenseits unserer schnellen Wünsche,
und doch wünscht es uns,
- fast als habe es keine andere Wahl -,
doch wünscht es uns nichts lieber,
als da zu sein,
da für uns.

Wer das Wort bricht

Wer das Wort bricht,
bricht nicht nur das Wort,
er bricht sich selber,
über ihm hängen schon
die Schlingen im Wind,
es ist nur eine Frage der Zeit,
bis er sich verstrickt,
er kommt nicht davon.
Wer das Wort bricht,
der täuscht sich,
er tauscht die Worte aus,
als seien sie beliebig,
er bricht sich das Genick,
er betrügt sich selbst,
er ist sein eigener Henker,
er verleugnet das Wort.
Wer das Wort bricht,
zerbricht die Schale zur Unzeit,
bevor das Leben schlüpft,
bevor etwas entsteht.
Ihm, der das Wort bricht,
traut niemand,
so sät er Mißtrauen und Mißgunst,
so gräbt er sein eigenes Grab.

Die Geistin

Wenn wir es am wenigsten erwarten,
wenn wir erschüttert sind bis ins Mark,
wenn keiner mehr kommt, kommt sie, die Geistin,
sie kommt ohne ersichtlichen Grund
und ohne daß wir es erahnen könnten
und hilft uns, uns anzunehmen,
damit wir neu und mit klaren Kräften
den Tau berühren,
vor dem Aufgehen der frühen Morgenröte,
sie verlangt nichts von uns,
sie bürdet uns nichts auf,
sie grämt uns nicht mit schweren Gedanken,
sie gibt uns das Wasser,
sie reicht uns das Brot,
sie ist uns treu, die Geistin,
sie geht mit uns durch Schwefel und Feuer,
sie fällt nicht über uns her,
die Schöpferin Geistin,
sie nimmt uns zu sich in ihr Haus,
sie öffnet uns die Türen, 
sie richtet uns auf,
unser Kopf, ihre Zungen,
unser Fleisch, ihr Gesicht.

Der Neid

Der Neid hat viele Väter
und viele Mütter,
aber er ist nicht glücklich,
er gönnt den Anderen nichts,
er verwünscht sie,
aber zugleich
ist es sein größter Wunsch
zu sein wie die Andern,
deshalb ist er nie selbst,
sondern immer ein Anderer,
er wohnt in einem anderen Haus, 
er trägt andere Kleider,
er atmet sogar andere Luft, 
bis er merken muß,
daß sie ihm ausgeht
und er als ein Anderer lebte
und ihm nur eines bleibt,
der eigene Tod.

Sicherheit

Die, die so viel
von Sicherheit reden,
sind sich selbst
nicht ganz sicher,
sie sind sich selbst
unheimlich geworden,
sie verbergen etwas,
aber sie versichern
hoch und heilig,
daß es ihnen nur
um die Sicherheit geht.
Bedenklich wird es vor allem,
wenn sie sagen, es ginge ihnen
nur um die innere Sicherheit.
Wir fragen, wieviel Inneres
braucht der Mensch,
um wirklich sicher zu sein,
und muß man es unbedingt
schwarz auf weiß haben,
wie zum Beispiel in Pretoria,
wir fragen, was kostet uns
die innere Sicherheit,
und was ist überhaupt innen,
steht es nicht oft nur
außen vor?
Aber wir, die so fragen,
sind vielleicht schon
eine Unsicherheit,
denn wir, die so fragen,
sind wie die Reste,
uns ergeht es nicht
anders als Lazarus,
auch er legte wert,
auf die Reste,
er bildete sozusagen
das Restrisiko.
Lazarus, wir bitten dich,
wach auf,
damit die Reichen an den Tischen
ihre Rechnung bezahlen,
denn sie, die Reichen,
machen sie ohne den Wirt.