Friedemann Schäfer

Das schweigende Wort

Gedichte

Deine Hüfte sinkt in den Abend
hinab in das leuchtende Laub.

Gewissheit

Und wieder die Zeit
und das Sterben,
dieses Gefügte,
nicht Verfügbare in uns,
aus dem heraus wir schauend werden,
immer gewiss,
dass die Stunde kommt;
und mit dieser Gewissheit
sich neu geschenkt werden,
als entdecke man
die andere Seite des Lebens,
mit der Spur
von Himmel und Erde
in uns.

Sehen

(für Hilde Domin)
Der noch blühende Baum
zwischen den Häuserfronten
aufragend - :
und stündlich
wird es leiser für uns
das Leise durch den Lärm tragend
stündlich.

Und immer wissen,
dass es uns geschenkt ist,
die Stunde, die Zeit,
Tag und Nacht.

Und so sehender werden
für das Kleine,
das keine Stimme hat,
bis auf den Grund sehend werden
für das Leben in uns.

Geben

Irgenwann,
wenn dir die Worte fehlen,
wenn es dir die Sprache verschlägt,
macht es keinen Sinn
mehr zu reden;
Du hast deinen Kopf 
hingehalten.
Du hast das Letzte
aus dir herausgeholt,
du hast versucht zu trösten.
Wenn deine Worte
verhallen im Wind,
wenn du wie gegen
Wände sprichst,
dann rede nicht mehr,
sondern kehre ein in die Stille,
und wünsche dir
ein Haus voll Zeit,
so sei gewiss,
wenn die Ernte kommt,
hast du wieder
neue Kraft, zu geben.

Die Nähe des Anderen

Warum fehlst du mir so,
wenn du nicht da bist?
Ist es dein Mund,
deine Stimme,
das Spiel deiner Finger?
Vielleicht ist es so,
dass ich nicht ,ganz' sein kann
ohne dich -
- dass du mir fehlst;
wie eine Wunde, ein Schmerz
erst geheilt werden können
durch 
die Nähe des Anderen.

Das schweigende Wort

Die Stille hören,
und es blättert
der Staub
von den Bäumen,
eine Träne
wegwischend dem Unfassbaren
wie eine Knospe
sich öffnet
dem Tau des Lichts,
zwischen Himmel und Erde
sich spannend,
und so
immer hörender werdend,
vor - dem schweigenden
Wort:

Noch

Noch liegt des Abends
blaues Gesicht
auf allen Farben der Dämmerung.
Noch glitzert,
im Spiel der Wellen,
die Wolke im Wasser.
Und in den Nächten
steigen die weißen Sterne
dir müde über das Haupt.
Noch darfst du sein.

Die Zeit

Wie groß ist doch die Zeit.
Sie kommet und sie gehet
und bleibt in Ewigkeit.
Der Mensch jedoch verstehet
sie nicht. Sie ist zu weit
und wenn er sie verstehet,
versteht er sie im Leid.
Sie heilet seinen Schmerz,
teilt Abend und teilt Morgen,
erfüllt sein ganzes Herz
und bleibt ihm doch verborgen.
Sie läßt sich nicht wegschaffen.
Das macht, der sie erschaffen,
ist selber unsichtbar.

Gebet

Der du die Harfen der Sterne
in deinen Händen hälst,
lass sie klingen,
oh lass sie klingen
und weiterschwingen
an des Menschen Herz - :
Oh welch ein Staunen
und Erwachen!
Alle Engel sich neigen,
und in den Zweigen,
den grünen des Sommers,
tönet es fort.

Trost

(für E., bei der ich zu Gast war)
Trunkschlafen liegt die Welt,
die Nacht hat alle Sterne gestellt,
darin Gottes blauer Odem wohnt,
und alle Jahre sind darinnen
wie an einer Perlenschnur
bis auf den Meeresgrund gespannt,
darüber die schimmernden Wogen
und alle Stimmen - ;
Blaue Engel gehen durch die Nacht,
damit die Kinder nicht weinen;
sie spenden Trost dem Bettler
und füllen die Schalen
mit Brot und grünen Zweigen,
die sich zitternd, sanft
zur Erde niederneigen.

Zweifel

Der Tag liegt fern.
Noch ist es dunkle Nacht.
Ich sitz' an meinem Tisch und weine.
Die Sterne scheinen mir wie Steine.
Ich bin so einsam und alleine.
Da rauscht der Wind
so leise in den Bäumen
als wär' ich noch ein Kind,
und in den Räumen
steigt weißer Nebel auf,
und Wolken jagen
am hohen Himmel hin,
all meine Sorgen fortzutragen.
Ist es ein Traum?

Staub I

In den Staub
gemalt deine Hand,
mit den Worten aus Staub,
mit der Wolke,
mit dem Wind,
der vom Meer kommt.
Ich schreib' dir Geliebte
noch viel solcher Worte,
voll Abschied und Trauer,
voll Trost und voll Sand.

Staub II

Weißer Tanz der Uhren,
gebogen von Stern zu Stern,
wir heben euch auf
die äußerste Spitze der Angst,
feinster Staub rieselt es
durch uns hindurch,
durch die Mechanik
des Uhrwerks,
auf das wir gespannt sind,
stundenweit - :

Sehnsucht

Im weißen Turm der Nacht
welche Stille!

Die Kleider der Sterne
umspannen dein Haupt.

Grünes Gezweig
rankt empor,

und der Mond
treibt die Deichseln
der Wolken am Himmel.

Welch Staunen, welch Bangen,
und welch ein Verlangen!

Irdische Weise I

Immer wieder fährt der große Wind
über Land und Stadt und Meer und Grind,
in den wir hineingeboren sind
für die Spanne einer kurzen Zeit,
die uns Irdischen verbleibt,
bis wir, unseres Leben satt,
fallen wie vom Baum das Blatt.

Irdische Weise II

Heute sah ich erste Blätter fallen,
vom Wind erfaßt, als fände er Gefallen
an ihrem Spiel:
Vom Herbst begrüßt,
als sollten sie sich noch einmal entfalten
so ganz der leuchtenden Sonne hingehalten.

Zu Dietrich Bonhoeffers 100. Geburtstag

Der du die Tat so beschworst,
wurdest selbst zum Opfer.
Von Misstrauen umgeben,
schreibst du von Vertrauen
zum Menschen,
übtest die Nächstenliebe,
betetest für deine Mitgefangenen,
flohst nicht wie Jona,
sondern suchtest den Widerstand:
Warst du ein Prophet,
weil du früher als andere erkanntest,
was kam?
Wie fragend
blickt dein Bild
uns Heutige an?

Schreiten

Stampf deinen Schritt.
Im Marschton der Höfe
geh' uns voran,
und lass dann die Wolken
erzittern im Licht;
nach der Weise
der Stimmen,
die immer durstiger werden,
Schritt für Schritt.

Selbstinterpretation zum Gedicht "Schreiten"

Ist bei diesem Rhythmus des Schreitens, des Voranschreitens, des Ausschreitens, noch ein Einschreiten möglich?
"Stampf deinen Schritt", ist eine Aufforderung. Es sieht eine Gefahr aufkommen, der der Mensch ausgesetzt ist. Es geht um den Fortschritt im Schreiten. Dieses Schreiten überschreitet jeglichen Rückzug ins Private. Aber wer schreitet da eigentlich?
Das Schreiten des Fortschreitens im Fortschritt dieser Welt, ist es letztendlich nur ein Treten auf der Stelle, ein bis ins Endlose gesteigertes Stampfen im Kreise?
"Im Marschton der Höfe" erinnert an Militärisches (fast möchte ich sagen "zeremoniell" und wie verräterisch ist dabei die Sprache?!). Welcher Zeremonienmeister spielt hier auf? : "geht uns voran". Ist es die Technik des Schreitens, die dem Menschen (hier sicherlich dem gequälten, leidenden Menschen) voran geht? Und wer beschwört sie herauf?
"Und lass dann die Wolken erzittern im Licht" verweist fast an einen kosmischen Vorgang ... Im Fortschreiten des Fortschritts zittert selbst das Licht!
"Nach der Weise der Stimmen", erinnert an den Anfang mancher Psalmen im Alten Testament.
"Nach der Weise der Stimmen":
Welche Stimmen? und sind sie noch hörbar, oder verhallen sie gänzlich: "im Marschton der Höfe"?
Aber wäre das Wecken des Bewusstseins für dieses "Schreiten" nicht auch schon ein Einschreiten, eine Verlangsamung des Prozesses, der Sprache, des Stillen des Durstes;
"Schritt für Schritt"?

Einsamkeit

Der lange Weg ...
und immer geht die Zeit,
mit allem Kommenden.
Halt dich bereit! -
Und lass die Fahnen
deiner Einsamkeit
dann mit ihr flieh'n
in die Unendlichkeit.
Noch bist du hier - 
Noch atmest du den Schmerz
Und allen Durst der Welt,
der dich erfasst,
wie eine dunkle Frucht,
die bald erblasst
zu Schnee und Staub
in deines Winters Bast.

An dich

Noch steigt der Nebel
auf aus weißen Höfen.
Der Morgen tagt.
Bald öffnet sich das Licht,
und deine Hände,
die mich zart berühren,
sind voller Schönheit,
d'raus der Morgen spricht.

Schreiben

Oh, dieser Abend, diese Musik, dieses Trinken
aus einem Glas Kristall. Die Häuser sinken
in eine Tiefe ein, als ob sie winken
wie kleine Münzen, die wie Sterne blinken.
Und dann darin doch so verloren sein
und so verzaubert, dass dies alles stimmt
wie jemand einen Hut vom Haken nimmt,
um schon zu gehen und lässt dich allein.
Und dann mit einemmal ein heller Feuerschein,
ein Blitzen und ein Leuchten und ein Treiben
wie es sich spiegelt in den Fensterscheiben.
Du weinst - und setzt dich nieder,
ein Gedicht zu schreiben.

An einem Herbsttag

Es war ein später Herbsttag, aber mit einer leuchtenden Sonne, die noch einmal ihre ganze Kraft verströmte. Draußen vom
Hof her hörte man Stimmen von spielenden Kindern, die sangen. Die Tür zum Balkon stand weit auf. Die Spinnweben vor dem Fenster glitzerten.
Er hatte ein Buch aufgeschlagen von James Joyce. Es war zweisprachig:"Dublin Stories", "Erzählungen aus Dublin", und der Sprachstil von James Joyce passte so ganz zu diesem Oktobertag. Erinnerung und Augenblick vermischten sich zu einer Wirklichkeit, die fast nicht mehr die seine schien. Er hatte in letzter Zeit viel über den Staub geschrieben, viel nchgedacht.
Draußen ging fast kein Wind. Die Bäume hatten sich rötlich gefärbt. Der Tag schien ihm jetzt vollkommen; fast wie das Leben, dachte er, nur mit etwas mehr Licht!

An Georg Trakl

Geht dunkel
durch die Erinnerung
des Abends Schmerz,
und golden leuchtet die Sonne
im Weiher,
dein leuchtendes Haupt,
geistlicher Bruder,
bald sammeln sich Sterne
in deinen Augen,
ein singendes Buch
dein Gedicht.

Winterweise I

Wen soll ich suchen?
Wen hier finden?
An welche Türe klopf ich an?
Ach, es zieht immer mit den Winden
der Wolken eisiges Gespann.
Der Winter naht.
Die Flocken stieben,
immer vom selben 
Wind getrieben.
Wann komm ich an?

Winterweise II

Ich trinke den Durst
deiner Tränen,
die weißen Alleen
und Bäume,
durchflutet vom Licht.
Schwer geht das Ruder
der Zeit.
Ich seh' dein Gesicht
und grüße dich flüchtig
wie der Schnee draußen
fliegt mit dem Wind.

Das Fraglichste

Wenn es hinter allem Sagen
kein Sagen mehr gibt,
dann wird das Sagen 
zum Gesagtesten.
Wenn es hinter allem Staunen
kein Staunen mehr gibt,
dann wird das Staunen
zum Erstaunlichsten.
Und wenn es hinter allem Fragen
kein Fragen mehr gibt,
dann wird das Fragen
zum Fraglichsten.

Gesang

Mein geistiger Gesang bei Nacht - 
Und die Stunden gehen
und die Stunden geh'n.
Sie rauschen so lange im Winde
meine Freunde, die Bäume,
meine Freunde, die bäume,
und durch die Räume
geht ein großes Weh'n ...
Wie sie rauschen,
wie sie rauschen,
als würden sie 
ihre Gedanken tauschen.
Da will ich nur
schweigen und lauschen!

Zur Nacht

Noch taucht aus süßer Frucht
der Abend auf,
die Sterne nehmen
alle ihren Lauf.
Ich leh'n am Fenster,
staune über die Pracht,
und langsam geht der Abend
über in die Nacht.

Psychose

Er sitzt und raucht,
so ganz in sich versunken
als habe er das Leid 
der Welt getrunken.
Ihm ist, als falle
alles in ihn ein
und ist so namenlos
in seiner Welt allein.
Als falle feinster Blütenstaub
auf sein Gehirn,
so wischt er sich
den Schweiß von seiner Stirn.
Dann wieder geht durch ihn
ein ahnungsvolles Glück,
als fände er den Weg 
ins Paradies zurück.

Versunken

Spielt sein Lied der Harfner,
schweiget still das Korn.
Weiße Nebel wandern
über Schilf und Dorn.
Kleine Elfen gehen
durch die Türen ein.
Trunkene versehen 
sich mit rotem Wein.
In die Ferne gleitet
ein verlass'ner Rauch.
Durch das Dunkel schreitet
mit ein kalter Hauch.
Spielt sein Lied der Harfner,
schweiget still das Korn.
Weiße Nebel wandern
über Schilf und Dorn.

Güte

(für Helga Rueß-Alberti)
Wunderbar ist dieser Abend
unter grünen Schatten und blauen Seen.
Cherubime singen in den Bäumen,
wo Gottes gütiger Wind wohnt,
entzünden sich die Augen der Liebenden:
Zarte Knospen blühen
aus ihren Mündern
und ihre Zungen
tragen die vollen Waben des Sommers.
Immer bricht Gottes gütiges Auge das Brot
dem Bettler
im Schacht der Verlassenen,
sucht die Hand den Docht des Lichts,
Gottes Güte im Menschen,
zergeht ein zartes Bild
auf der Zunge,
wissen auch die bittersten Tränen
vom Glück.

Anfang

Des Lebens innigste Schwester,
die Liebe,
geht dir immer entgegen,
Woge um Woge
hebt sie dich aufwärts;
im Wellental
atmest du ihre Schwärze,
aber oben schimmert immer das Licht,
und golden leuchtet der Tag
unter der Sonne.
Aber wie flüchtig
der Mensch,
bald hierhin, bald dorthin
getrieben,
und doch wohnt ihm
Ewiges inne,
das mit der Liebe beginnt.

Tonight

The evening is falling with the dust.
I long for something else and it must
be sweet and beautiful as a face
of a young girl, in wich I trust.
This is my fantasy in waiting for the night.
I listen to the birds and all the white
stars are looking from the heaven to the earth,
so peace and quiet.
And I remember all the days, I've seen on earth
and all the pictures since my early birth.

Nacht

Die Nacht zieht herauf
mit der Sterne Gewand,
zieht über die Städte
und über das Land,
als hielte sie jemand
in der Hand,
so weiß sind sie,
wie Meeressand.
Da fließt
ganz leiser Regen entlang,
und mir wird bang.
Und die Toten steigen
aus ihren Gräbern
einen Sommer lang.
Und weben ein Lied
in ihren Gesang,
so leis' wie der Regen
am Bergeshang.

Erster Schnee

Ein Nebellied singen.
Du kommst an.
Auch hier ist bleiben.
Du folgst den Konturen
der Landschaft,
eingeschärft in den Herbst,
unter der Winterknospe.
Deine Lippen trinken
den Dorn des ersten Schnees,
mit den fallenden Blättern.

Die drei Fragen

Woher kome ich? 
Diese Frage, die sich schält
aus den Wangen der zeit
und die mich immer begleitet
wie ein Regenbogen
über dem Land.
Wer bin ich?
So oft verwirkt und verletzt
gepresst wie der Wein
aus der Rebe des Weinstocks
und doch nur ein Hauch
wie das Gras.
Und wohin gehe ich zurück?
Kehre ich jemals zurück?
Was bedeuten
die vielen Sterne über mir
und die Flüsse und Seen
der Landschaft?
Doch alles Leben
wärmt sich am Feuer der Nacht.

Was zählt

Das aber musst du wissen,
wenn du gehst,
du musst wissen,
dass der Baum
vor deinem Fenster
wieder blühen wird,
dass die Sonne
wieder leuchten wird
über dem Land,
mit ganzer Kraft,
und dass der Regen kommen wird,
der große Regen,
mit Schauern und Gischt,
und dass allein die Liebe zählt,
dass es auf sie ankommt,
Stunde für Stunde,
Gewicht für Gewicht.